„Mamiii! Die Eva hat ein riesiges Stück von meinem Eis abgebissen!!!“ Man hat es wirklich nicht leicht mit einer Schwester. Manchmal. Und manchmal erlebt man mit ihr die dollsten Sachen. So wie die Frankfurter Illustratorin Anke Kuhl, die im Klett Kinderbuch Verlag schon einige herzerwärmende und witzige Bücher veröffentlicht hat. Für dieses hier gab es den ersten Preis schon vor der Veröffentlichung. Da hat sich wohl auch in der Jury so mancher ertappt gefühlt.

Und beglückt. Denn was Anke Kuhl hier in lauter kess gezeichneten Geschichten aus ihrer Kindheit erzählt, haben viele Kinder erlebt. Nicht nur Schwestern, auch Brüder. All diese schrecklichen, so peinlichen Erlebnisse, an die sich alle auch noch dreißig Jahre später erinnern.

Diese „Weißt du noch?“-Geschichten, bei denen auch die erwachsen gewordene Anke bis zur Ohrenspitze erröten kann. Und trotzdem mag sie ihre Schwester Eva. Sie hat ihr das ganze Buch gewidmet.

Denn mit Geschwistern lernt man eben auch eine Menge übers Leben (was Einzelkinder so niemals erleben). Zum Beispiel, wie man sich streitet und wieder versöhnt, wie man Dinge teilt oder auch nicht. Wie man großherzig sein kann und hinterher trotzdem zutiefst frustriert.

Wie man gemeinsam Wagemut zeigt und hinterher auch gemeinsam um Verzeihung bittet. Es ist oft richtig schön, wenn man da nicht immer allein durch muss. Gerade durch die Szenen, in denen man sowieso schon ein ganz schlechtes Gewissen hat.

In gewisser Weise ist jede kleine Familie eine Übung für die große Gesellschaft. Erst recht, wenn auch noch Oma und Opa mit im Haus wohnen, Openom, wohin man immer mal ausbüxen kann, wenn es mit Mama und Papa zu stressig wird. Oder die kleinen großen Erfolge im Leben eines Kindes zu verkünden sind. Denn mit Openom ist alles viel einfacher.

Sie haben immer Zeit, müssen sich nicht so um Erziehung, Wehwehchen und Familienzoff kümmern wie Mama und Papa. Und wenn’s bei Mama und Papa mal ordentlich scheppert, weil Mama erfahren hat, dass Papa eine Freundin hat, dann kann man sich hinaufflüchten und bei Openom schlafen.

Natürlich sind es zuallererst Ankes Geschichten, die sie erzählt, all jene Geschichten, die man einfach nicht vergisst, weil sie einen zutiefst aufgewühlt haben – wie die Geschichte mit dem bissigen Kaninchen, von dem die kleine Anke glaubt, es könnte sich wieder beruhigt haben in seiner Einzelbox.

Oder der Tag, als die kleine Anke im Fernsehen zum ersten Mal erfährt, dass alles endlich ist – das eigene Leben, das von Mama und Papa, sogar das der Erde und damit der Menschheit. Das neue Wissen wird sie einfach nicht mehr los und kann erst wieder beruhigt einschlafen im Bett der Eltern.

Und da ist ja auch noch diese erste Geschichte, die eigentlich mit dem ständigen Augenzwinkern von Eva beginnt, sodass ein Besuch bei der Augenärztin fällig wird. Doch am Ende ist es Anke, die eine große runde Brille bekommt und darüber staunt, was man auf einmal alles sehen kann.

Vielleicht war das sogar die Ur-Geschichte der Grafikerin, die ihre Begeisterung über den Detailreichtum der Welt heute in immer neuen Comic-Geschichten über das wahre, bunte und abenteuerliche Leben festhält.

Gezeichnete Geschichten, die auf bezaubernde Weise zeigen, dass das ganz normale Leben eines Mädchens voller Abenteuer und Aufregung ist. Was ja vielen Menschen überhaupt nicht bewusst ist, die in ihrem Leben sogar vor den eigentlichen Abenteuern fliehen und sich einkapseln und dann in ihrer Einsamkeit wüten. Denn Leben, das sind die ganzen verrückten Ereignisse, die passieren, wenn man einfach mit Phantasie und offenen Augen durch die Welt geht.

Was schon mit Göbels schrecklichen Boxerhunden nebenan beginnt, an denen Anke jeden Morgen auf ihrem Schulweg vorbei muss. Und mit dem Streit um den Lieblingsschlüpper der Schwester weitergeht. Der dann ein bisschen ausufert, sodass man auch die heutige Mama Anke in der Geschichte gespiegelt sieht, diesen täglichen Ausruf fast aller Eltern: „Diese Kinder!“

Der kommt meistens dann, wenn die Eltern merken, dass diese kleinen Lebewesen ab nun einen eigenen Kopf haben und genauso energisch sein können wie die Großen. Da schleicht sich dann ein unheimlicher Ernst in die Beziehung mit diesen Biestern und die bauchkribbelnde Ahnung, dass die Kinder ab jetzt wirklich ernst genommen werden wollen und das alles auch schrecklich ernst meinen. Auch wenn’s schiefgeht, so wie der Telefonstreich mit Frau Nohl, der kleine Diebstahl für den Barbiesalat oder das Duell mit den Klobürsten.

Da fällt dann bestimmt auch dem einen oder anderen erwachsenen Leser so manche Peinlichkeit ein, die man als Kind erlebt (und erlitten) hat, so schrecklich erlitten, dass man sich noch Jahrzehnte später dafür schämen möchte. Oder auch nicht? Ist das nicht eigentlich der Stoff, aus dem unser Leben ist? Nur haben wir irgendwann aufgehört, so die Grenzen auszutesten, immer solche Erwachsenen-Sprüche im Ohr von „So was macht man nicht“, „Kannst du dich nicht benehmen?“ oder „Wie konntest du nur …“

Dabei wären wir nie sensible Menschen geworden, wenn wir uns immer nur richtig benommen hätten.

Na gut.

Es gibt genug Leute, die sich immer benommen haben. Und grämlich alle trollen, die sich „danebenbenehmen“, nicht so sind wie sie: blass, grau, phantasielos und eigentlich schon fertig mit dem Leben, bevor es überhaupt angefangen hat. Leute, die sich immer zurückgesetzt fühlen, weil sie sich nie getraut haben, aus vollem Herzen lebendig zu sein. Das sind die Anfälligen für die ganzen menschenverachtenden Sprüche.

All die Leute, die ihren Gram über das Nie-Erlebte an anderen austoben. Die gibt es ja nicht nur im Osten. Das ist ein ganz-deutsches Problem. Jedes Kind weiß das, das mal mit diesen Grämlichen, Verbiesterten und Selbstgerechten zu tun hatte, die ihren Frust übers Nicht-Lebendigsein nur zu gern auch an Kindern auslassen.

Und ihre Hunde dann Benni, Bella und Bambi nennen, damit man glaubt, Herr Göbel sei ein netter Mensch und seine Boxer ganz brave Tiere.

„Manno!“ ist so ein Buch auch über das Erfahren, wie schnell ein Leben kaputtgehen kann – immerhin ist ja auch die Mama der beiden Schwestern nur knapp dem Tod entronnen. Und ein Krankenhausbesuch geht ja für Eva nur gerade so glimpflich aus. Wobei die kleine Anke mit ihrer großen roten Brille auch die personifizierte Neugier ist. Jetzt, wo sie alles genau sehen kann, will sie auch alles genau wissen.

Das ist nicht nur für die „blödeste und liebste Schwester“ eine Herausforderung, sondern für alle Eltern. Und die grämlichen verbieten den Kindern bald das Fragen. Und die aufgeweckten lernen mit den Kleinen, selbst wieder neugierig zu sein und durch eine neue Brille auf diese Welt zu schauen, in der „man zwischendurch große Angst hat, aber auch getröstet wird“. Nur muss man das lernen als Kind: sich den nötigen Trost zu besorgen.

Das lernen viele einfach nicht mehr.

Wahrscheinlich, weil sie nie so lebendige Geschwister hatten wie Anke. Wer nie gelernt hat, sich richtig zu streiten, weiß auch nicht, wie man wieder zueinander kommt. Womit das auch ein Kinderbuch-Comic ist, den auch erwachsen gewordene Menschen lesen dürfen. Vielleicht erst mal heimlich unter der Bettdecke. Könnte ja peinlich sein, wenn man dabei von grämlichen Leuten ertappt wird, die einen dann so vorwurfsvoll angucken, als hätte man ihnen den Lieblingsgartenzwerg zerdeppert.

Anke Kuhl Manno!, Klett Kinderbuch Verlag, Leipzig 2020, 16 Euro.

Der Leipziger OBM-Wahlkampf in Interviews, Analyse und mit Erfurter Begleitmusik

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