Sage niemand, es gäbe im Leben nicht genug Passionen, die einen so richtig ausfüllen können, ohne dass man seine wertvolle Zeit vor Fernseher, Smartphone und Ballerspielen verbringen muss. Für den Mathematiker Achim Ilchmann aus Erfurt war es ein Haus, das ihm ab 2004 zur Passion wurde. Ein ganz besonderes: das kleine Rokoko-Stadthaus „Zum güldenen Heer“. Über die Rokoko-Faszination hat er schon ein Buch geschrieben. Nun gibt es eins, das man zu anderen Häusern lange suchen kann.
Denn Ilchmann hat sich nicht nur in das bei den Erfurtern lange Zeit als Hochzeitshaus bekannte Gebäude an der Predigerstraße verliebt, das er 2004 von der Stadt Erfurt kaufen konnte. Er hat sich, als er begann, es zu restaurieren, auch intensiv mit der Vorgeschichte des Hauses aus dem Jahr 1768 beschäftigt. So intensiv, wie es wahrscheinlich auch andere kluge und feinfühlige Hausbesitzer und Immobilienentwickler machen, wenn sie ein denkmalgeschütztes Kleinod wieder in einen Zustand versetzen wollen, der die überlieferte Bausubstanz und die Schönheit des Gebäudes respektiert, aber auch heutige Nutzungen ermöglicht.
Nur schreiben die meisten darüber keine Bücher. Leider, muss man sagen. Denn Ilchmann zeigt hier, dass auch die Geschichte eines einzelnen Hauses Stadtgeschichte spiegelt, sogar ein spannender und lebendiger Teil der Stadtgeschichtsforschung ist.
Andeutungsweise konnten das die Leipziger jetzt mit Bernd Weinkaufs Geschichte von „Auerbachs Keller“ an einem Leipziger Beispiel lesen. Zum Alten Rathaus gibt es lesbare Bücher, zum „Coffebaum“ und auch zu den Stadtkirchen. Aber was Ilchmann hier für ein einzelnes Erfurter Stadthaus gemacht hat, vermisst man für Leipziger Bürgerhäuser eigentlich. Dafür muss sich einer tief in die Bauakten vertiefen, ganze Umbauphasen recherchieren, aber auch die Besitzer des Hauses, sofern sie nachweisbar sind, in den alten Akten und Adressbüchern suchen. Und da hört es nicht auf.
Denn als Ilchmann das erste Buch zu diesem besonderen Haus schrieb („Das bürgerliche Stadthaus im Rokoko“), stellte er sich auch die berechtigte Frage: Was trieb den Erfurter Banker Friedrich Wilhelm Stalforth eigentlich dazu, dieses alte Brandgrundstück, das auch 30 Jahre nach dem Stadtbrand von 1737 noch unbebaut war, mit einem Haus zu bebauen, das er eigentlich gar nicht brauchte, denn er wohnte ja präsentabel mit seiner Familie direkt am Markt. Und gleichzeitig quasi im letzten Moment, wo das Rokoko in Deutschland noch lebendig war, ein solches sogar sehr kleines Stadthaus zu bauen, das schon damals regelrecht exotisch gewirkt haben musste in dieser Umgebung.
Ilchmann geht bei seiner Spurensuche so weit zurück in die Erfurter Geschichte, wie es mit verfügbaren Quelle möglich ist – bis ins 12. Jahrhundert, als Erfurt genauso wie Leipzig zur Stadt wurde und im heutigen Altstadtgebiet Parzellenaufteilungen entstanden, die die Grundstücksabmessungen bis heute bestimmen. Nur dass damals alles viel größer war. Innerhalb der ersten Stadtbefestigung gab es für deutlich weniger Bewohner viel mehr Platz, sodass sie nicht nur ihre Häuser auf den Parzellen hatten, sondern daneben auch Vielställe und große Gärten zur Selbstversorgung.
Wenn die sächsischen Archäologen in den letzten Jahren mal ein paar ihrer raren Statements zur Leipziger Frühgeschichte abgaben, erwähnten sie ganz ähnliche Strukturen. Aber augenscheinlich hat sich bis heute kein Forscher in Leipzig mit den ursprünglichen Parzellen aus der Zeit der Stadtgründung beschäftigt. Was schon verblüfft. Denn die sollten in den alten Katasterkarten eigentlich alle auffindbar sein.
In Erfurt kommt noch die anrührende Forschung eines echten Kellerexperten hinzu, der alle mittelalterlichen Keller inspiziert und in Karten festhält, sodass auch die alte mittelalterliche Bebauung anhand der oft aus Stein gemauerten Kellergewölbe sichtbar wird, die auch Stadtbrände wie den von 1737 überdauerten.
Über die Keller kommt Ilchmann also auf die einstige Bebauung der Großparzelle, von der das Haus „Zum güldenen Heer“ tatsächlich nur einen kleinen, sehr schmalen Teil einnimmt. Umso cleverer musste Stalforth hier planen. Und es deutet einiges darauf hin, dass er mit dem Bau des Hauses seiner eigenen Liebe zum Rokoko frönte – gleichzeitig aber ein präsentables Haus schuf mit allen nötigen Anbauten im schmalen, eher lichtlosen und feuchten Hof.
Da sich auch das aus alten Akten und Bodenfunden rekonstruieren lässt, bekommen die Leser mit Ilchmann auch eine sehr plastische Vorstellung davon, wie Menschen in der frühen Neuzeit wohnten, wie sie Küche, Stall und Abort im Hof unterbrachten und das funktional – zum Beispiel über überdachte Laubengänge – mit dem Wohnhaus verbanden.
Wobei Ilchmann seine Leser früh schon auf die große Enttäuschung vorbereitet, denn bis ins 19. Jahrhundert überlebte das nicht nur für Erfurt einmalige Rokoko-Haus fast unversehrt. Selbst seine letzten privaten Besitzer änderten zwar so einiges – vom Toiletteneinbau bis zur Aufstockung der Rückseite. Aber sie ließen die einmalige Rokoko-Innenausstattung fast unversehrt. Es blieb wirklich den Denkmalschutzbehörden und Sanierern ab 1937 überlassen, fast alles an alter, originaler Rokoko-Innenausstattung zu zerstören. Und die schlimmsten Eingriffe gab es ab 1991 – wider alle Auflagen der Oberen Denkmalschutzbehörde.
Das kommt einem doch schon sehr vertraut vor: Wenn man sich nur einen Partykeller einrichten kann und lauter Büros mit dem, was gerade am Markt als modern und billig gilt, dann wird das auch gemacht. Dann werden alte Treppengeländer, Paneele, Fußleisten und Stuckdecken entfernt, Fenster entsorgt und Türen geschrottet. Man merkt regelrecht, wie Ilchmann das Herz blutet, wenn er die alten Bauakten studiert und lesen kann, wie – gegen alle Warnungen – ein einmaliges Interieur völlig zerstört wurde, so sehr, dass nach dem Verkauf des Hauses 2004 eigentlich nichts mehr da war, kaum noch ein Detail zu rekonstruieren.
Trotzdem erzählt Ilchmann natürlich sehr detailliert, wie dann mit Hilfe vieler kompetenter Handwerksbetriebe nach 2004 doch wieder ein dem ursprüngliche Zustand naher Bauzustand im Hausinneren hergestellt wurde. Manches wurde anhand berühmter Vorbilder, die sich da und dort in Thüringer Schlössern und Museen noch erhalten haben, rekonstruiert. Bei anderem wurden Lösungen gesucht und gefunden, die dem Geist des Rokoko und dessen Sinn für Symmetrie und Schönheit nahekommen.
Und fast immer kam man dem Ursprungsbefund selbst bei den Farben nahe, freut sich Ilchmann, der ja im ersten Buch sehr sachkundig geschildert hat, wie der Rokoko eigentlich tickte und wie sich die Art des Rokoko, die Welt als Harmonie zu begreifen, in klaren architektonischen Regeln niederschlug.
Nur bei der Fassadenfarbe wählte man das im Rokoko beliebte Altrosa statt des ursprünglichen Minzgrüns. Da kam die Farbanalyse der Fachleute, die alles eigentlich schon Anfang der 1990er Jahre untersucht hatten, leider zu spät.
Aber das Glück des Hauses, so konnte man eigentlich schon in der frühen Hausgeschichte im späten 18. Jahrhundert feststellen, war immer die Tatsache, dass Erfurt damals im Grunde eine Stadt in Dauerkrise war. Selbst Stalforths Bau war eine Ausnahme. Der zeitgleich in Erfurt lehrende Wieland empfand die Stadt geradezu als trist und bedrückend.
Die Stadt, die noch 300 Jahre zuvor als Messestadt selbst Leipzig in den Schatten gestellt hatte, hatte einen unerhörten Niedergang erlebt und konnte bis in die Preußenzeit hinein nie wieder an die alte Blüte anknüpfen. Selbst die einstmals Reichen der Stadt waren verarmt. Während Leipzig in dieser Zeit geradezu erblühte und an den dicht bebauten Straßen riesige Barock-Häuser entstanden, kam das Baugeschehen in Erfurt sogar fast zum Erliegen. Was ein Glück war für das kleine Rokoko-Haus, denn so blieb es in seiner Substanz bis in die Gegenwart erhalten.
Und Achim Ilchmann konnte dem einmaligen Bauwerk mit akribischer Detailkenntnis wieder eine Atmosphäre geben, die dem Rokoko-Gefühl des Erbauers nahekommt. Wie sich die Atmosphäre völlig verändert, sieht man an vielen Innenaufnahmen, die sichtbar machen, was für eine Baukatastrophe die „Sanierung“ von 1991 angerichtet hat – und mit was für innenarchitektonischem Gerümpel damals der ganze Osten geflutet wurde. Die stil- und gefühllosen Einbauten wurden allesamt wieder herausgerissen und ab 2004 begann eine lange Zeit der behutsamen Annäherung an ein wiedererwecktes Rokoko-Haus, wie es sich Ilchmann vorstellte.
Man bekommt also nicht nur ein detailreiches Buch zur Rekonstruktion des Hauses „Zum güldenen Heer“, sondern auch ein ganzes Stück Stadtentwicklungsgeschichte, in der natürlich das alte Predigerviertel eine zentrale Rolle spielt, der oft rücksichtslose Umgang auch mit den alten Kirchen, aber auch der immense Druck, der mit der Bauwut des ausgehenden 19. Jahrhunderts auch dieses Viertel bedrohte. Und teilweise ist es unter riesigen Hauskomplexen ja auch verschwunden.
Gebremst wurde die Entwicklung tatsächlich erst durch den aufkommenden Denkmalschutzgedanken in den 1930er Jahren, auch wenn man da vor allem auf das Äußere sah und noch nicht wirklich begriff, wie Außen und Innen nicht nur im Rokoko zwingend zusammengehörten. Das macht Ilchmanns Buch nun mit einer fast wissenschaftlichen Akribie sichtbar. Man lernt mit ihm, dass Innenräume und Treppen ganz und gar nicht nur funktional zu begreifen sind, sondern Wohnräume auch Lebensräume sind. Und erst wenn auch hier die Harmonie stimmt, fühlen sich auch die Bewohner wohl.
Achim Ilchmann Die Baugeschichte eines Rokoko-Stadthauses, Ulenspiegel Verlag, Erfurt 2018, 29,80 Euro.
Keine Kommentare bisher