Lothar Machtan ist – was das Jahr 1918 betrifft – einer der ausgewiesenen Historiker Deutschlands. Und wie kein anderer weiß er, was alles schon akribisch erforscht ist – und welche Fragen bis heute unbeantwortet geblieben sind. Und eine ist ganz zentral: Wie kam es, dass trotz erfolgreicher Revolution die Weimarer Republik so wenig Akzeptanz bei den Deutschen gefunden hat? Eine spannende Frage, die mit drei zentralen Personen zu tun hat.

Eigentlich sogar mit mehr. Denn dass am Ende drei Männer durch ihr Handeln bzw. Nichthandeln darüber entschieden, wie Weltkrieg und Kaiserreich ein Ende nahmen, hat ja auch damit zu tun, dass das Deutsche Kaiserreich im Herbst 1918 eigentlich weder eine handlungsfähige Regierung, noch ein handlungsfähiges Parlament oder gar eine öffentliche Meinungsbildung hatte, die dem um sich greifenden Ruf nach Frieden Gehör verschafften.

Nichts davon gab es. Und das lag natürlich auch an der Konstruktion des Bismarckschen Kaiserreiches mit seinem im Grunde gelähmten Parlamentarismus. Nicht erst die letzen von Wilhelm II. berufenen Reichskanzler betrieben Politik als Kabinettspolitik, wofür das Innenleben der alten Reichskanzlei in der Wilhelmstraße 77 exemplarisch stand. Machtan schildert es im Buch recht ausführlich, weil es auch vor Augen führt, wie elitär und abgeschottet Politik im Kaiserreich betrieben wurde. Alles war auf den Kaiser zugeschnitten, der die Reichskanzler berief und über seinen eigenen Beraterstab die Reichspolitik zu steuern versuchte.

Was ja bekanntlich schon 1914 die fatale Folge hatte, dass er – von seinen Höflingen aufgeheizt – völlig kopflos in den 1. Weltkrieg stürzte. Und damit das ganze Land mit. Und vier Jahre schafften es Burgfriedenspolitik, absolute Pressezensur und eine umfassende Propaganda, diesen Krieg am Laufen zu halten, obwohl spätestens nach dem missglückten Angriff im Sommer 1914 klar war, dass dieser Krieg anders werden würde – ein riesiges Schlachten mit moderner Kriegstechnik, in dem am Ende jene Alliierten gewinnen mussten, die die größeren Wirtschaftsreserven hatten. Aber so tickte Wilhelm II. nicht.

Selbst in diesem Buch wird sichtbar, wie sehr er sich in seiner eigenen Welt eingesponnen hatte, von der Realität abgeschirmt durch eine ganze Entourage von Höflingen, was vielleicht noch hätte gutgehen können, wenn nicht die Macht im Reich ganz auf diesen völlig verunsicherten, konturlosen Mann zugeschnitten gewesen wäre, dessen Kaisertum eigentlich nichts als Theater und Show war. Womit wir schon einmal den ersten Kandidaten vor uns haben, an dem Machtan zeigt, was da ab September 1918, als endgültig klar war, dass der Krieg verloren war, alles schiefging im Reich.

Eigentlich hätte man auch noch die beiden Hauptverantwortlichen für den völlig überdehnten Krieg und die Niederlage im Buch erwartet – Ludendorff und Hindenburg. Aber Machtan lässt sie bewusst am Rande, denn mit der letzten – mit 900.000 Toten erst recht völlig sinnlosen – Offensive hatten diese beiden Feldherren das Spiel völlig überreizt. Die Truppen waren ausgebrannt und gerade an der Front war klar, dass dieser Krieg verloren war, während der Druck der Alliierten immer größer war. Ludendorff, der eigentliche Stratege hinter den blutigen Offensiven, hatte auch noch jene Reserven verbrannt, mit denen Deutschland zumindest bessere Friedensbedingungen hätte erreichen können – und zwar im September 1918.

Doch zu dem Zeitpunkt war weder das Heereskommando fähig und mutig genug dazu. Und in Berlin gab es keinen, der bereit war, zu handeln. Nicht der Kaiser, der sich jetzt vier Jahre lang daran gewöhnt hatte, dass das Oberkommando des Heeres alles ganz allein entschied, noch dessen willfähriger Kanzler Georg von Hertling, der das Parlament erst recht kaltgestellt hatte. Wilhelm merkte schon, dass die Kriegsniederlage auch das Ende seiner Regentschaft und der ganzen Hohenzollerndynastie bedeuten würde. Aber – abgeschottet, wie er war – hatte er sichtlich kein Gefühl dafür, wie überdrüssig die Bevölkerung dieses Kaisers und seines Krieges mittlerweile war.

Einer in dem Trio, über das Machtan schreibt, wusste es, weil er es bei einem Urlaub im Sommer in Bayern hautnah erlebt hatte: Friedrich Ebert. Auch wenn er selbst eine eigentümliche Gestalt ist – mit Blick auf die heutige SPD vielleicht auch wieder nicht, denn die Mehrheits-SPD (MSPD) des Jahres 1918 hatte nicht mehr viel zu tun mit der SPD eines August Bebel. Seit 1914 trug sie die Burgfriedenspolitik mit.

Und Ebert selbst war ausgesprochener Monarchist und kämpfte in diesem Herbst 1918 eigentlich darum, die Monarchie zu erhalten. Deswegen bot er sich dem neuen – von Wilhelm eher widerwillig akzeptierten – Reichkanzler Prinz Max von Baden als bereitwilliger Bündnisgenosse an. Selbst ein Getriebener, denn seit 1917 hatte Eberts SPD einen echten Konkurrenten, die abgespaltene USPD, die den Kriegskurs nicht mehr mittragen wollte. Und sie war es auch, die im Herbst den Unmut bei Soldaten und Arbeitern aufgriff und die Revolution vorbereitete.

Nur so als Einschub: Der 9. November 1918 war eine echte Revolution. Machtan widmet auch der Schilderung dieses Tages viele gut dokumentierte Seiten. Gerade weil das hinterher beinah völlig aus dem Bewusstsein der Deutschen verschwunden ist, eigentlich sogar bis heute, dass sie auch die Revolution von 1918 gewonnen haben. Was ja in den Debatten um den Herbst 1989 immer wieder von konservativeren Flickschustern behauptet wird, diese Revolution nun ausgerechnet gegen die SED-Macht sei eigentlich die einzig erfolgreiche Revolution der Deutschen gewesen.

Was Unfug ist. Was aber hineingehört in die Geschichte der Weimarer Republik und das bis heute gerade bei vielen konservativen Deutschen gebrochene Verhältnis zu Demokratie und Republik. Woran die Akteure in diesem Herbst 1918 eben nicht ganz unschuldig sind. Denn spätestens seit Oktober trieb die USPD mit ihrer tatsächlichen Nähe zu Arbeitern und Soldaten die (Nicht-)Regierenden vor sich her. Eigentlich nur gebremst durch die Beschwichtigungspolitik der MSPD, die gerade in Berlin bis zum 8. November fertigbrachte, Aufstände und Streiks zu verhindern. Da war der Aufstand in der Flotte längst losgebrochen und in anderen deutschen Großstädten hatten die Revolutionäre längst die Rathäuser übernommen.

Normalerweise hätten auch Reichskanzler und Kaiser längst reagieren können. Seit September hatten sie die Aufforderung der Heeresleitung auf dem Tisch, endlich Kapitulationsverhandlungen aufzunehmen. Doch nichts passierte. Logisch, dass die Alliierten die Geduld verloren. Streiflichtartig lässt Machtan die Ungeduld der Kriegsgegner aufleuchten, die jetzt eigentlich nach einem Ansprechpartner suchten, mit dem sie das Kriegsende ernsthaft verhandeln konnten. Und es gab keinen.

Das, was sie an Regierungswirren von außen erlebten, muss ihnen das Gefühl gegeben haben, mit einem völlig zum Zombie gewordenen Staat reden zu wollen. Logische Folge: Die Noten, die US-Präsident Wilson schrieb, wurden immer deutlicher, zielten nicht mehr nur auf einen Rücktritt des völlig orientierungslosen Kaisers, sondern auch eine völlig andere Regierungsform in Deutschland. Für ihn war genauso klar wie für die mittlerweile zutiefst frustrierten Deutschen, dass mit den Hohenzollern und dem Kaiserreich keine Politik mehr gemacht werden konnte.

Auch wenn Max von Baden als Reichskanzler noch glaubte, Wilhelm den Thron retten zu können. Aber weil er selbst kein starker Kanzler war, der bereit gewesen wäre, die Möglichkeiten seines Amtes zu nutzen, zog sich das hin, wich Wilhelm immer wieder aus und sperrte sich bis zuletzt, abzudanken. Deswegen war dann die Abdankungsmeldung, die Max von Baden am 9. November lancierte, eher eine Kabinettsnote, ein Zeichen an die Berliner, die an diesem Tag tatsächlich in einen Generalstreik traten und sich mit den Soldaten in den Berliner Kasernen verbrüderten. In einem Handstreich eroberten sie die Macht, die an diesem Tag tatsächlich auf der Straße lag.

Machtan analysiert sehr schön die psychologischen Gemengelagen, in denen sich seine drei Hauptfiguren bewegten. Wobei der Leser durchaus verblüfft sein darf darüber, wie dieser heillos überforderte Wilhelm II. wirklich alle Möglichkeiten aus der Hand gab, selbst noch Handelnder zu bleiben. Nicht einmal in diesen letzten Wochen fand er den Mumm, wirklich Politik zu gestalten.

Das hatten vorher 30 Jahre lang andere für ihn getan – zuletzt immer mehr nur noch Jasager, die dem leicht Erzürnbaren nichts entgegensetzten. Als Ludendorff und Hindenburg endlich zugaben, dass sie mit ihrer menschenverschlingenden Kriegsstrategie völlig gescheitert waren, gab es nicht eine Instanz, der sie die Verantwortung, die sie vier Jahre lang an sich gerissen hatten, übergeben konnten.

Und auch Max von Baden, der glaubte, als Reichskanzler noch einmal Reich und Thron retten zu können, zeigte sich völlig überfordert. Er kannte ja nicht einmal den Berliner Politikbetrieb. Und den Mut, jetzt als Kanzler wirklich aktiv zu werden, fand er auch nicht. Auch er vertrödelte einen vollen Monat, in dem Wilson und die Alliierten immer ungeduldiger wurden und die Berliner immer mehr bereit, den ganzen alten Plunder mit einer Revolution hinwegzufegen.

Und da kommt Friedrich Ebert ins Spiel, der die Deutschen noch im September nicht für fähig hielt, ohne eine Monarchie auszukommen. Deswegen paktierte er mit Max von Baden heimlich und versuchte die noch existierende Schlagkraft der MSPD zu nutzen, um die Monarchie-Rettungsaktion zu stützen. Aber am 9. November kulminierten die Ereignisse – und statt zuzupacken und wirklich zum Reichskanzler einer Regierung zu werden, die den Übergang selbst gestaltete, packte Prinz Max die Koffer und übergab die Reichskanzlerschaft einfach so im Hinterzimmer an Friedrich Ebert.

Der war an diesem Tag längst selbst ein Getriebener, denn wenn die MSPD noch eine Rolle spielen wollte in allem, was jetzt kam, musste sie schleunigst Anschluss an die Revolution finden, mit der USPD ins Gespräch kommen und vor allem selbst aktiv werden. Denn ab den späten Morgenstunden wurde überall in Berlin schon die Republik ausgerufen.

Was ja zu den vielen schönen Legenden um diese Revolution gehört. Als wären das alles schon Verkündungen vollzogener Akte gewesen. Da kann Machtan nur staunen, wie brav und ordnungsliebend die deutschen Revolutionäre auch damals waren. Sie zerstörten keine Regierungsgebäude, lieferten sich keine blutigen Schießereien, selbst das verhasste Polizeipräsidium übernahmen sie friedlich.

Es war – genauso wie 1989 – eine komplett Friedliche Revolution. Und sie hatte dieselbe Ursache: eine mitten in der Krise völlig handlungsunfähige Regierung. Nur dass es nach 1989 ein großes Aufräumen gab, einen umfassenden Elitenwechsel. 1918 war das nicht der Fall. Am Staatsapparat, den Friedrich Ebert übernahm, wurde gar nichts verändert. Die Beamten der Monarchie blieben allesamt im Dienst. Der Reichstag tagte zwar nicht mehr, aber bevor dann in Weimar die große Nationalversammlung tagte, trat auch kein neues, demokratisch legitimiertes Parlament an seine Stelle.

Man schuf also perspektivisch eine Republik auf einem monarchistischen Unterbau. Und Ebert gelang etwas, was sicherlich für sein politisches Talent spricht: Er konnte die eigentlichen Träger der Revolution, die USPD, einbinden und damit letztlich auch der Revolution ihre Wucht nehmen. Und damit auch ihren Glanz. Sodass dann 1919 in Weimar eher wieder eine Art Alltagsgeschäftigkeit über dem Ganzen lag, kein wirklicher Jubel darüber, dass nun nicht nur die Sozialisten endlich hatten, wofür sie Jahrzehnte lang gekämpft hatten – eine demokratisch legitimierte Republik – sondern auch alle liberalen und demokratischen bürgerlichen Kräfte.

Die kommen aber in diesem Buch so gut wie gar nicht vor. Was auch symptomatisch ist. Auch sie hatten sich viel zu lange auf den Burgfrieden eingelassen, statt selbst zu politischen Akteuren zu werden. Deswegen mangelte es ausgerechnet, als 1919 endlich eine deutsche Republik aus der Taufe gehoben wurde, an waschechten und begeisterten Demokraten.

Was Machtan zu der nachvollziehbaren Schlussfolgerung bringt, dass das Jahr 1933 genau in diesem so seltsam vergeigten Herbst 1918 seine Wurzeln hat. Die Revolution kam von unten – aus den Betrieben und Kasernen. Die meisten Parteien – außer der USPD – waren auf den scheinbar so völlig ungewollten Kaisersturz und den Zusammenbruch der Monarchie gar nicht vorbereitet. Die Revolution war das Ergebnis eines „schleichenden Staatsversagens“, wie es Machtan nennt, die „republikanische Volksdemokratie“ dann so eine Art Sturzgeburt, eine „politische Kreatur, die vielen Deutschen wie ein untergeschobenes Kind vorkam.“

Wobei Machtan auch betont, wie wichtig handlungsfähige Akteure sind, die fähig sind, selbst in Krisensituationen zu gestalten. Die alte Kaisermonarchie hatte keine mehr, denn widerspenstige Politiker wie Bismarck hielt Wilhelm II. gar nicht aus. Und das bürgerliche Lager erscheint in diesem November 1918 völlig kopflos und verunsichert. „Die politische Zukunft des über Nacht zur Republik mutierten Kaiserreichs stand in den Sternen.“

Die Form der Republik musste erst gefunden werden. Aber schon mit seinem frühen Bündnisschluss mit dem alten Machtapparat schuf Friedrich Ebert einen Zwitter. „Ein Austausch der politischen und militärischen Eliten unterblieb weitgehend …“

Und noch ein Gedanke taucht auf, denn die letzten Ereignisse um den 9. November waren ja auch durch Präsident Wilsons dritte Note und die Nennung der Kapitulationsbedingungen durch die Alliierten getrieben. Und praktisch der erste Regierungsakt des Kabinetts Ebert war ja der Beschluss, die Kapitulationsverhandlungen aufzunehmen, die ja auch dadurch geprägt waren, dass die Alliierten den deutschen Verhandlungspartnern mit ihrer seltsamen Regierungsbildung zutiefst misstrauten. Wären diese Verhandlungen anders ausgegangen, wenn es die deutschen Revolutionäre tatsächlich gewagt hätten, mit dem alten Kaiser-Imperialismus Schluss zu machen?

Es gibt gerade beim genaueren Hinschauen, so Machtan, erstaunlich spannende Fragen, die sich auftun. Und die auch die Ereignisse in der Weimarer Republik in neuem Licht erblicken lassen. Denn das Grundleiden der Weimarer Republik war ja, dass es kaum jemanden gab, der wirklich beherzt und aufrecht Republik und Demokratie verteidigte.

Stattdessen boten selbst die großbürgerlichen Medien der sogenannten „Dolchstoßlegende“ fruchtbaren Boden, mit der die tatsächlichen Gründe für Kriegsniederlage und Kaisersturz verbrämt und verdreht werden. Was schon ein anderes Kapitel ist. Lothar Machtan macht ganz bewusst am 10. November Schluss, als die Weichen gestellt waren, zwei seiner „Helden“ den Schauplatz fluchtartig verlassen hatten und Friedrich Ebert, der eingefleischte Monarchist, nun auf einmal der Mann war, der die Republik irgendwie Form annehmen lassen musste.

Lothar Machtan Kaisersturz, wbg Theiss, Darmstadt 2018, 24 Euro.

Zeitreise 1918: Abwehrschlacht an allen Fronten (1)

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