Die sogenannte Krefeld-Studie sorgte im vergangenen Jahr für einen regelrechten Aufschrei in den Medien. Über 75 bis 80 Prozent der Insektenmasse ist in den vergangenen 30 Jahren aus Deutschland verschwunden. Seitdem sind Worte wie Insektensterben und Artenschwund in vieler Munde. Immer mehr Menschen begreifen, weil es so anschaulich ist, dass in unseren Landschaften eine stille Katastrophe passiert. Und sie haben begriffen, dass das unsere Existenz infrage stellt. Aber wer kümmert sich denn schon um Insekten?
Andreas H. Segerer tut es. Er ist einer der wenigen festangestellten Schmetterlingsforscher (Lepidoperologen) in der Bundesrepublik, arbeitet an der Zoologischen Staatssammlung München und beschäftigt sich seit Jahrzehnten mit dem Vorkommen von Schmetterlingen in Bayern. Und er kennt noch eine Kindheit mit summenden, surrenden, singenden Wiesen, mit blühenden Obstbäumen, in denen es von Bienen und Hummeln nur so brummte, mit einem Tümpel voller Wasserläufer und auch Mücken. Das war in den 1960er Jahren und das Paradies lag im Grunde gleich hinter seinem Elternhaus in Regensburg.
Davon ist nichts geblieben. Das ganze Gebiet wurde mit Eigenheimen zugebaut. Und wie Eigenheime heute aussehen, weiß jeder. Da gibt es keine blühenden Wiesen, keine summenden Hecken, keine naturnahen Wassertümpel. Der Rasen wird mit der Mähmaschine auf grünes Millimetermaß getrimmt. Die Hecken bestehen aus giftigen Gewächsen, die man anderswo nur auf Friedhöfe pflanzt. Es blüht auch nichts, zumindest nichts Wildes. Und wenn etwas summt, fiept oder quakt, holen die Eigenrasenbesitzer die Chemiekeule raus mit Pestiziden, die in der Landwirtschaft aus guten Gründen inzwischen verboten sind.
Und wer spazieren geht in dem, was wir heute noch Landschaft nennen, läuft meist durch eine gespenstische Stille. Denn das große Sterben hat schon vor Jahrzehnten eingesetzt. Denn es musste gar nicht erst die Krefelder Masse-Studie geben, damit die Insektenforscher in Deutschland merkten, dass etwas Bedrohliches im Gange war. Alle Roten Listen bei deutschen Landesregierungen erzählen davon.
Und bei Segerer kommt hinzu: Er kennt die Forschungspraxis, kann auf über 150 Jahre Schmetterlingswissen in Bayern zurückgreifen, kennt also auch die Belege, welche Schmetterlingsarten in welchen Gebieten im 19. Jahrhundert noch in Bayern gefunden wurden. Er kennt die Biotope. Und er kann auch Karten beisteuern, die zeigen, wie die Populationen zurückgingen und ganze Gebiete verwaisten. Vor allem bei den großen Prachtschmetterlingen, die einen in den 1960er Jahren noch umflatterten, wenn man über eine blühende Wiese ging. Heute umflattert einen da gar nichts mehr und man ist fast glücklich, wenn man noch einen Kohlweißling sieht.
Die Menschen, die heute Eltern und Großeltern sind, sind die letzten, die in ihrer Kindheit noch blühende Landschaften erlebt haben, denn natürlich hängt es mit blühenden Landschaften zusammen.
Segerer nimmt seine Leser systematisch mit in sein Forschungsfeld. Aber genau dieselben Phänomene können zum Beispiel die Leipziger UFZ-Forscher über das Vorkommen wilder Bienen beschreiben. Es betrifft wirklich alle Insekten. Selbst so emsige Tierchen wie die Ameisen. Aber auch Wespen und Mücken. Ihnen wurde systematisch der Lebenstraum entzogen, als in den 1970er Jahren die industrielle Landwirtschaft ihren Siegeszug antrat und die alte, kleinteilig bewirtschaftete Feldflur bereinigt wurde – damals wurden nicht nur im Osten, sondern auch im Westen „störende“ Hecken, Wiesen, Raine und Wäldchen untergepflügt.
Die Felder wurden immer riesiger und Monokulturen eroberten die Landwirtschaft. Und da man immer öfter nur noch Kulturen anbaute, die sicheres Geld versprachen, gab es auch immer weniger Fruchtwechsel. Jahr für Jahr wird das Gleiche angebaut. Und um die Böden überhaupt noch ertragfähig zu halten, wird alles überdüngt. Und weil die Monokulturen besonders anfällig sind für spezialisierte Schädlinge, entstand eine riesige Pestizid-Industrie. Der zähe Streit um das Mehrfach-Insektizid Glyphosat liegt noch gar nicht lange zurück.
Und das Zeug ist ja mittlerweile nicht nur in Flüssen, Seen, Grund- und Trinkwasser nachweisbar oder gar am Ende der Nahrungskette in Backwaren und Bier. Es verbreitet sich auch über die Feldränder hinaus mit dem fatalen Ergebnis, dass selbst in den viel zu klein beschnittenen deutschen Naturschutzgebieten der Artenreichtum zurückgeht.
Warum das so ist, erzählt Segerer so bildhaft, wie man es sich damals gern von seinem Biologielehrer gewünscht hätte. Kommt Biodiversität überhaupt noch vor im Biologieunterricht? Wird es nicht nur angefragt und abgehakt? Denn so, wie deutsche Politiker in den letzten Jahrzehnten argumentiert haben, kann man nur davon ausgehen, dass sie vom Aufeinanderangewiesensein aller Lebewesen keine Ahnung haben. Sie haben sich von der Agrar-Industrie-Lobby vor sich hertreiben lassen.
Mit Betonung auf Industrie, denn die Bauern sind nicht wirklich die Feinde der Biodiversität, auch wenn ihre Verbandssprecher oft genau so agieren. Denn dass in Deutschland noch bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts ein Artenreichtum auch an Insekten existierte, hatte auch mit den Bauern zu tun. Wir leben in einer menschgemachten Landschaft. Und die jahrhundertelang dominierende kleinteilige Feldwirtschaft ließ auch hunderte unterschiedlicher Biotope entstehen, in denen sich neue Insektenarten ansiedelten. Natürlich schildert das Segerer hauptsächlich am Beispiel der Schmetterlinge.
Aber mit dem Siegeszug der Agrarindustrie wuchs der Druck auf alle Landwirte enorm, immer mehr immer billiger zu produzieren. Wer überleben wollte, passte sich dem „Diktat des Marktes“ an, vergrößerte die Felder, düngte, sprühte und beseitigte jede Störstelle auf immer größeren Feldern. Es ist kein Zufall, dass der Beginn dieser Art Industrie-Landwirtschaft direkt zusammenfällt mit dem Beginn des Insektensterbens.
Segerer macht am Ende auch eine kleine Liste der Ursachen auf. Auch im Widerstreit mit der Agrar-Lobby, die medial immer wieder Gehör findet und selbst wissenschaftliche Studien mit dem scheinheiligen Argument vom Tisch fegt, es gäbe ja nicht DIE EINE Ursache für das Insektensterben. Gibt es auch nicht. Da haben die Herren Verbandspräsidenten und Konzernsprecher wahrscheinlich vergessen, wie radikal sie die Landwirtschaft seit den 1970er Jahren umgekrempelt haben.
Und zwar nicht nur in Europa. Heute haben alle großen Industriestaaten dieselben Probleme – von den USA bis China. Überall sorgt derselbe Effizienzdruck dafür, dass Landschaften leer geräumt werden und immer gigantischere Mono-Kulturen das Bild bestimmen. Und dass die Insekten, Vögel und Säugetiere verschwinden. Denn alles hängt in der Natur mit allem zusammen. Das Verschwinden der Feldvögel haben die Forscher ja sogar noch früher bemerkt als das Verschwinden der Insekten. Es fiel einfach eher auf. Da viele von ihnen auf Insekten als Nahrung angewiesen sind, fanden sie in dieser Welt einfach keine Nahrung mehr.
Deswegen ist aus Forschersicht ziemlich eindeutig, dass drei Hauptgründe für das Insektensterben verantwortlich sind: a) die intensivierte Landwirtschaft mit ihren gnadenlosen Gesetzen des maximalen Ertrages und b) der Landfraß, der genauso ungehindert weitergeht und vor allem wertvolle Ackerflächen, Wiesen und Biotope verschlingt. An ihrer Stelle entstehen artenarme Wohngebiete, Straßen, Parkplätze, Gewerbe. Und c) das Schrumpfen der übrig gebliebenen Siedlungsinseln, auf denen sich viele Arten nicht mehr selbst erhalten können.
Und damit das ein Bild ergibt, erklärt Segerer auch, wie wichtig eben nicht nur der Schutz winziger Biotop-Inseln ist. Eigentlich auch nichts Neues. Aber es muss wohl erst hundert Mal erzählt werden, bis es auch die zuständigen Politiker begreifen, dass die heutigen Schutzgebiete viel zu klein und zu vereinzelt sind. Es fehlen Verbindungen, die den Tieren und Insekten den Übergang über die riesigen, nahrungslosen Zwischenräume ermöglichen. Es gibt kaum noch Austausch im Genpool, die Populationen werden kleiner und verlieren ihre Widerstandskraft. Und dann verschwinden sie, verstummen die kleinen Restwiesen.
Und das hat alles nichts mit Romantik zu tun. Am Ende seines Teils kommt Segerer auch auf den wirtschaftlich berechenbaren Nutzwert der Insekten zu sprechen. Man kann es bei der Bestäubungsarbeit der Bienen genauso berechnen wie bei der Bodenaufbereitung durch Regenwürmer. Und das sind nur die sofort greifbaren Beiträge. Es geht bei Insekten, die eigentlich sogenannte Schädlinge als Beute bevorzugen, weiter – die in der Regel gleich mitvergiftet werden, wenn man Insektizide über alle Flächen versprüht.
Im Grunde sind wir gerade erst dabei zu lernen, wie komplex die Lebensräume um uns sind und wie sehr wir davon abhängig sind, dass sie intakt bleiben. Denn wenn das Artensterben schon auf so viele Insektenarten übergegriffen hat, wann ist dann der Punkt erreicht, an dem das ganze System kippt, weil Vögel und Kleinsäuger keine Nahrung mehr finden und die Selbstregulation der viel zu kleinen Biotopinseln zusammenbricht?
Segrerer klingt zu Recht besorgt. Weil er auch erlebt hat, wie die Warnungen der Forscher seit Jahrzehnten verhallten, abprallten an Ministern, die lieber die Agrar-Politik der Konzerne verteidigten, als den Ernst der Lage zu begreifen und gegenzusteuern. Was sie gemacht haben war – auf europäischer Ebene genauso wie in Deutschland: Sie haben an Symptomen herumgedoktert, Förderprogramme aufgelegt, die unübersehbar nicht helfen.
Rausgeschmissenes Geld. Alibi-Politik. Und sie haben gerade den Bauern, die wieder auf eine ökologische Landwirtschaft umsteigen wollten, lauter bürokratische Hürden in den Weg gelegt. Von irgendwelchen tiefgreifenden Landesprogrammen zur Wiederherstellung einer intakten Landschaft ganz zu schweigen. Obwohl sie es alle wissen.
Und da kommt dann im zweiten Teil des Buches Eva Rosenkranz ins Spiel, die mit sehr viel Euphorie über all jene Initiativen berichtet, mit denen Bürger, Kommunen und Bauern schon gegensteuern – sei es die Anlage von kilometerlangen Blührändern an sonst monotonen Feldern, sei es die Anlage von Blühwiesen oder die Beendigung des fatalen „Grünflächen“-Denkens in den Städten.
Denn dort hat man ja all die Jahre auf monotone grüne, in kürzesten Abständen immer wieder gemähte Rasen gesetzt. Die Parks sehen genauso trist und langweilig aus wie die Vorgärten der Eigenheimbesitzer. Und natürlich summt da auch nichts, denn die Nahrungsgrundlage der Insekten wird ja genauso wegrasiert wie ihre Brut.
Aber Rosenkranz zeigt eben auch, dass jeder etwas tun kann. Kleingärtner können den Unfug mit dem Golfrasen beenden und wieder unberührte Biotope für Insekten schaffen, selbst Balkonpflanzen kann man insektenfreundlich auswählen und die völlig nutzlosen Pelargonien dezimieren. Man kann ökologische Landwirtschaftsbetriebe unterstützen und im eigenen Wohnort für die Rettung und Vergrößerung von Biotopen kämpfen. Man muss das nicht den oft genug lernunwilligen Verwaltungen überlassen.
Das Alarmzeichen haben 2017 viele gehört. Jetzt ist Zeit zum Handeln. Und wenn es erst einmal im Kleinen ist. Das Buch ist also beides: Eine wissenschaftlich sehr lebendige Einführung in ein wirklich alarmierendes Thema. Und eine Ermunterung an alle, die sich von der Untergangsstimmung der Politiker nicht anstecken lassen wollen und Wege suchen zu handeln. Und wer dann auch noch Tipps braucht, was man im Garten und auf der Wiese alles aussäen kann, damit die Insekten auch noch im Sommer und Herbst Nahrung finden, auch das bietet Eva Rosenkranz.
Andreas H. Segerer; Eva Rosenkranz Das große Insektensterben, oekom Verlag, München 2017, 20 Euro.
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