Das Schönste an diesem Buch ist der Stil. Den findet man selten in deutschen Romanen. Und man erwartet ihn auch nicht, wenn man Anna Herzigs Facebook-Profil aufruft – gezwungenermaßen, denn ihre Wordpress-Seite hat sie gekappt. Auf Facebook aber präsentiert sich die 1987 geborene Autorin aus Wien wie eins der pubertierenden Mädchen, die sie ihren Helden Pawel und Bertl im nächtlichen Wien begegnen lässt. Da erwartet man nicht diese humorvolle Abgebrühtheit.
Und auch wenn Voland & Quist lockt mit der Aussage, „Sommerreigen“ sei Anna Herzigs erstes gedrucktes Buch, ist es nicht das erste Buch der Tochter eines Ägypters und einer Kanadierin, die ja nun eindeutig eine Wienerin ist. Sie hat Schmäh. Und sie hat diese ganz und gar österreichische Distanz zu den Elendigkeiten des gemeinen Lebens. Eine Distanz, die unsere oberdeutschen Sentimentalisten selten bis nie fertigbringen. Wenn man mal von einem wie Tucholsky absieht, der mit seinen liebenswerten Figuren im Sommerurlaub genauso umging: liebevoll.
Das muss erwähnt werden, weil es auch die meisten Groß- und Kleinautoren verlernt zu haben scheinen: so zu schreiben, dass auch der Leser merkt, wie sehr sie ihre Figuren mögen. Und dass sie auch gern mal momentweise in ihrer Haut stecken würden. Wenn das nur ginge. Und an der Schreib-Maschine geht das schon mal. Da wirft man die Last der Bedenklichkeiten mal ab und lässt sich ein aufs Menschsein. Und erfährt: Gelassenheit.
Bei Elfriede Jelinek hat man manchmal das Gefühl, dass es gleich so weit sein könne, dann lässt sie ihre Figuren los und sie erleben ihre Abenteuer mal ohne das ständige Lärmen der Unmut-Sirene. Schade. Das passiert leider nicht. Nach einer Jelinek-Geschichte braucht man in der Regel viele Schokobon-Packungen, um erst mal wieder aus der zähen Stimmung aufzutauchen, wo doch alle Menschen so schlecht, boshaft und rücksichtslos sind. Die Männer besonders, diese Herrschpantoffeln.
Und dann liest man sich in diese Geseichte von Anna Herzig ein und ist natürlich erst einmal aufgeregt, denn natürlich erinnert der Buchtitel an ein ganz großes Literaturkapitel aus Wien: Arthur Schnitzlers „Der Reigen“. Wo es natürlich auch um den Reigen von „Macht, Verführung, Sehnsucht, Enttäuschung und das Verlangen nach Liebe“ (Wikipedia) geht, wie sie Menschen in der damaligen modernen Gesellschaft erlebten. Und wovon wir nicht weit entfernt sind. Auch das Schauspiel Leipzig hat ja „Der Reigen“ schon mal mit Bravour inszeniert.
Und fast hat man sich daran gewöhnt, dass die ganze Sache mit Liebe, Sex und Erotik nur noch als reine Machtfrage zu inszenieren geht. Bei Jelinek geht es ja genau darum. Wenn das ganze Leben von Macht und Geld bestimmt wird, wird auch Liebe zur Ware. Wer zahlen kann, darf ficken, um gleich mal das erste Wort von Anna Herzig zu zitieren. Wer nicht wettbewerbsfähig ist, landet entweder in unaushaltbaren Zuständen oder in der zunehmenden Versingelung unserer Gesellschaft. Alles hat seine Gründe.
Man darf also das Allerschlimmste befürchten, wenn Anna Herzig ihre beiden Helden einander auf einer Wartebank der Wiener Straßenbahn, wo auch die Nachtbusse halten, sich begegnen lässt. Es knistert aber erst mal gar nichts. Außer dass der eine, der Bertl, da sitzt wie gestrandet, weil ihm seine Frau, das Hannerl, beim Nachhausekommen gerade gesagt hat, dass sie erst mal nichts mehr wissen will von ihm.
Und dabei hatte er Blumen mitgebracht und sich sowieso in letzter Zeit schon mächtig angestrengt, die zunehmend verschlossene Frau an seiner Seite wieder aufzutauen. Dass sie fremdgeht, weiß er da noch nicht, ahnt es auch nicht. Er ist ein Mann, der sich Vorwürfe macht, weil er glaubt, er habe was falsch gemacht. Es läge an ihm. Obwohl er auch weiß, dass Johanna selbst wenig preisgibt von sich. Er kann also mit ihr nicht wirklich reden.
Das scheint also so selten nicht zu sein. Aber diesmal hat er ein Problem und säuft sich erst mal einen an und landet auf der Bank, wo er dann irgendwann in der Nacht, kurz bevor der erste Nachtbus fährt, einen Burschen anquatscht, der auch ein bisschen haltlos durch die Nacht läuft. Das ist der Pawel, der eigentlich Franz heißt. Aber warum er sich umbenannt hat, erfährt man alles noch.
Denn was erst mal wie eine etwas alkoholisierte Anmache klingt, ist erst mal keine. Es ist etwas Schöneres: Zwei Männer, die sich vorher gar nicht kannten, merken, dass sie miteinander reden können. Und dass ihnen das guttut. Kein Säufergeschwätz. Dazu tragen beide zu viel an Selbstvorwürfen in sich herum. Auch der 20 Jahre jüngere Pawel, der von seinem Seitensprung erzählt, aber auch irgendwann gucken lässt, dass er zu wirklich engen Beziehungen gar nicht fähig ist.
Die Vorgeschichte kommt später, wo sie sich beide nicht mehr viel geben. Also auch hartnäckiger sind. Denn wenn man schon mal einen trifft, der wirklich versteht, wenn er sagt: „Verstehe“, dann ist das etwas ganz Besonderes. Da kann man nicht einfach in den nächsten Nachtbus steigen und wegfahren und das war’s.
Obwohl es auch ein paar herrliche Nachtbusszenen gibt – auch mit einem übermüdeten Busfahrer, den Bertl in seiner süffigen Unbedachtheit beleidigt hat. Als der Busfahrer aussteigt und erklärt, was für ein Kreuz er mit seiner Scheidung hat, merkt man: Es geht nicht nur Bertl und Pawel so. Männer sehen immer irgendwie stark und emotional steifnackig aus. Innen drin aber suchen sie die ganz Zeit nach einem, der ihnen wirklich mal zuhört. Oder nach einer.
Schon das mit dem Liebesrausch ist ja wie ein Sechser im Lotto. Obwohl Bertl nun nach der zweiten gescheiterten Ehe dazu eine andere Meinung hat. Eigentlich möchte er so etwas nicht noch einmal erleben. Und dass er Pawel anquatscht, hat eigentlich nur damit zu tun, dass er ihn irgendwie kennt. Der Name sagt ihm jedenfalls was. Er hat die Fotos des Künstlers schon mal gesehen.
Und dann geht es eigentlich los, sie tasten sich ab und tasten sich heran. Und irgendwann haben sie beide das Gefühl, dass sie sich in dieser warmen Sommernacht tatsächlich irgendwie verstehen. So gut, dass es auch manchmal etwas aggressiver werden darf. Etwa dann, wenn der andere ausweicht und sich drückt. Und ganz sicher hätte das Ganze schnell enden können, wenn Pawel einfach aufgestanden wäre und den Bus genommen hätte. Aber mindestens zwei Mal bleibt er da, weil er den angeschickerten Bertl so nicht sitzen lassen will. Es treiben sich ja auch noch pubertierende Kraftbolzen herum. Da wird Pawel sehr deutlich.
Aber das ist dann schon, nachdem klar geworden ist, wer der Bursche ist, der dem Hannerl beischläft, wenn der Bertl nicht da ist.
Und das Schöne ist: Anna Herzig bleibt auf Puppenspieler-Distanz. Sie schlüpft nicht hinein in ihre Figuren, weiß aber alles, was sie bewegt. Es ist eine schöne Distanz. Die Autorin versteckt sich nicht hinter ihren Helden. Sie tut aber auch nicht so, als wüsste sie von nichts. Es gibt viel zu viele Autoren, die sich doof stellen. Vielleicht, weil das in einer Gesellschaft, die sich medial gern doof stellt, auch gernstens verkauft, gekauft und verfilmt wird.
Deswegen finden wir so wenige wirklich souveräne Heldinnen und Helden auf Buchseiten. Die meisten sind irreparabel kaputt und selbst der blödeste Pantoffelroman eine Abgrundgeschichte. Entweder sind die Schnarchnasen schon drin in ihrer persönlichen Hölle und der Leser muss mit ihnen 500 Seiten lang durch Missmut waten. Oder sie geraten hinein in einer aufhaltbaren Abwärtsspirale. Wenn dann doch ein Happy End kommt, ist es meistens schlecht zusammengeschustert.
Und bei Anna Herzig?
Da freut man sich einfach mit, dass alle drei zwar ihre eingebaute Unruhe haben und bis jetzt ziemlich scheuklappig durch ihr Leben gestolpert sind. Aber sie haben ihr Ich nicht in der Spüle entsorgt. Auch wenn sie in ihren eigenen Gefühlswelten leben. Es geht ja Johanna nicht anders als Bertl – aber aus völlig anderen Gründen, über die sie aber nicht spricht. Man erfährt von beiden, wie sie ihre Partner sehen.
Und man denkt sich dabei: Oho, sie kennen ihre Partner aber gut. Und dabei weiß man, wenn man das nebeneinanderlegt, dass sie selbst sich völlig anders sehen. Was wohl der Normalfall ist: Man liebt einander oft für Dinge, die dem anderen gar nicht auffallen oder wichtig sind. Ich bin jetzt ein bisschen im Anna-Herzig-Stil. Das steckt an, weil es so schön ist. Weil das nicht diese hässlichen norddeutschen Schachtelsätze ergibt, die erst nach drei Seiten aufhören und trotzdem keinen Sinn erheben.
Aber so denken wir gar nicht. Und so reden wir auch gar nicht. Und Bertl und Pawel halten einander auch keine Vorträge. Sie locken das, was sie vom anderen wissen wollen, in kurzen Sätzen auseinander heraus. Manchmal schweigen sie auch nur oder reden so vor sich hin. So, wie zwei alte paar Latschen miteinander reden, wenn sie sich miteinander wohlfühlen und gar nicht nach Hause wollen.
Erst später, als Bertl wissen will, wie das ist, wenn Pawel seine Frau küsst, wird es auf einmal etwas anderes. Aber gar nicht gefühlig. Was schön ist. Die beiden sind keine Leser von Liebesschmonzetten. Eher wundern sie sich, was ihnen da passiert. Und sagen das auch. Und machen trotzdem keine große Kiste draus.
Aber man ahnt was, weil das besonders Bertl beschäftigt, der sich eigentlich endlich mal einen Lebenszustand wünscht, in dem er sich nicht ständig glaubt rechtfertigen zu müssen. Und weil es Pawel mit seiner doch recht gewalttätigen Vorgeschichte ganz ähnlich geht, treffen sich die beiden an diesem Punkt.
Und weil sie es ernst meinen, endet die Geschichte dann zumindest vorläufig zu dritt. Denn Johanna soll schon wissen, was sie angerichtet hat. Es steckt auch in einem kleinen Satz, den Bertl ganz zu Anfang (also am Ende der Geschichte) zu Johanna sagt.
„Warum musst du alles wissen?“, fragt sie. – „Weil ich muss“, sagt er.
Meistens klingt es ja andersherum, wenn Frauen ihren Männern die Scheidungspapiere unter die Nase halten. Anna Herzig traut also ihren Helden eine Menge zu. Wahrscheinlich mag sie Männer wirklich gern. Auch und gerade solche wie Bertl. Und am Ende lässt sie Johanna nach Istanbul fliegen, damit sie dort die ganze Geschichte aufschreiben kann. Irgendjemand muss es ja tun.
Und es liest sich, als wäre die Autorin schon so lebenserfahren wie Bertl. Und auch so ausgenüchtert. Was einem ja als junger Mensch in unseren berauschten Zeiten kaum noch gelingt. Aber vielleicht hilft Wien ja – als Ort und als Verhältnis zum Leben. Auch zu diesem leicht amüsierten Stil. Ein Stil wie eine Freude, weil das Leben eigentlich sehr seltsam ist. Und gerade deshalb so schön und urkomisch.
Ein Buch für alle, die schon ein bisschen gelernt haben, wie vertrackt so ein Leben ist. Und dass das überhaupt nicht schlimm ist.
Anna Herzig Sommernachtsreigen, Voland & Quist, Dresden und Leipzig 2018, 18 Euro.
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