Es ist ein dickes Buch geworden. Ungewöhnlich auch für die Reihe, die der Sächsische Beauftragte für die Aufarbeitung der SED-Diktatur herausgibt. Eigentlich, so schreibt Lutz Rathenow, der Beauftragte, in seinem Vorwort, sollte so ein Buch in die Hosentasche passen, leicht sein und gut geeignet auch als Buch im Schulunterricht. Denn daran, wie Menschen litten, lernt man das Wesen von Diktaturen kennen.
Einige Bücher, die von den Schicksalen jener Menschen erzählen, die ab 1945 in die Mühlen der sowjetischen Militärjustiz und später der des SED-Machtapparates gerieten, haben wir auf der L-IZ schon besprochen. Einzelschicksale kann man abtun. Und oft werden sie auch heute noch abgetan. Erst recht, wenn die Wortmeldung dieser Menschen so unpassend wirkt und wie ein verspätetes Schlechtmachen der DDR. „Es doch nicht alles schlecht gewesen“, lautet dann meist der bräsige Vorwurf.
Und auch wenn es mittlerweile Gedenk- und Erinnerungsstätten an die schlimmsten Grausamkeiten der DDR-Zeit gibt, fehlt etwas. Und das sind garantiert nicht die immer neuen alten Vorwürfe und Schuldeingeständnisse. Die sind fürs Fernsehen. Aber tatsächlich sind sie nur Tünche, verschonen die Bürger des Ostens nur mit der Wahrheit, die diese Landschaft bis heute unterminiert.
Denn 1990 hatten es fast alle eilig, das Alte schnellstens hinter sich zu lassen, ein anderes Tüchlein in den Wind zu hängen und schnell wieder alle Schäfchen ins Trockene zu bringen. Auch und gerade in staatsnahen Bereichen und Parteien. Es war eigentlich genauso wie 1945: Die einen versuchten, ihre eigene Geschichte zu retten, und die anderen wollten nie etwas damit zu tun gehabt haben.
Deshalb blieben die tiefen Verletzungen, seelischen Verkrümmungen und Zerstörungen fein unter der Bettdecke. Man steckte es in die große Schatulle „SED-Diktratur“, unterließ aber den Blick auf das, was die Herrschaftsmechanismen der untergegangenen DDR eigentlich angerichtet hatten mit der Gesellschaft und den Menschen. Denn kein Lied hatte das, was mit den Bürgern dieses östlichen Deutschlands passiert war, besser auf den Punkt gebracht als Bettina Wegners Lied „Kinder“ von 1976: „Sind so kleine Seelen, offen und ganz frei. / Darf man niemals quälen, geh’n kaputt dabei. – Ist so’n kleines Rückgrat, sieht man fast noch nicht. / Darf man niemals beugen, weil es sonst zerbricht.“
Aber wie gesagt: Was passiert mit der Bevölkerung eines Landes, das nie über die Leiden gesprochen hat, die ihr zugefügt wurden?
Und wie sehr dieses Krümmen des Rückgrats und das Quälen der Seelen System hatte, das macht nun ausgerechnet dieses Buch spürbar. Das Material ist schon etwas älter – 2010 aufgenommen mit ausgiebigen Kamerainterviews mit Menschen, die wirklich all das erlebt haben: die willkürlichen Verhaftungen gleich 1945, als ein bisschen Tanz, ein bisschen Lebensfreude genügten, um denunziert zu werden und dann eben nicht nur in den sowjetischen Speziallagern zu landen, in einem dieser nachgenutzten Lager wie dem einstigen Kriegsgefangenenlager in Mühlberg oder den umgenutzten KZs Sachsenhausen und Buchenwald, sondern auch zur Zwangsarbeit im fernen Sibirien.
Hunderttausende erlebten diese Willkür, erlebten wochenlange Untersuchungshaft unter menschenunwürdigen Bedingungen, nächtelange Verhöre, Hunger, Kälte und Ungeziefer.
Und Zehntausende überlebten diese Zeit nicht, verhungerten, starben an Seuchen. Und natürlich fragten sie sich alle, was das eigentlich sollte, warum erst die Russen und dann die Stasi selbst so viele meist junge Menschen für nichtigste Gründe – aber mit martialischen Anklagen – zum Tode verurteile oder zu Zuchthausstrafen von 10, 25 Jahren. Die Toten können nicht mehr reden. Erzählen können nur noch all jene, die dieses menschenverschlingende System überlebt haben und die vor allem daran nicht zerbrochen sind.
Viele haben erst nach 1990 so langsam begonnen, das Vergangene aufzuarbeiten. In der DDR war das Thema immer tabu. Viele der Betroffenen sind sowieso bald in den Westen gegangen. Und wer da blieb, der versuchte sich anzupassen und der Staatsmacht keinen neuen Grund zu geben, erneut die Folterwerkzeuge herauszuholen.
Im stalinistischen System hatten diese Verfolgungen immer einen Sinn: So versetzte man ein Volk in Schrecken, verbreitete permanente Angst und Unsicherheit. Wenn schon der kleinste Funken von Freiheitsdrang dazu führte, dass man abgeholt, monatelang verhört und dann in Farce-Prozessen zu Strafen verurteilt wurde, die jenseits alles Begreifbaren lagen, dann sorgte man nicht nur dafür, dass es sich Menschen zwei Mal überlegten, ob sie aufmüpfig wurden oder gar aufrecht für Menschlichkeit eintraten, man veränderte auch eine Gesellschaft. Denn wo eine freimütige Äußerung reichte, in die blutigen Mühlen zu geraten, da beginnt das Schweigen, sich Ducken, Maskenaufsetzen und sich Verkrümmen.
Diese Außenwirkung denkt man am Ende schon immer mit, wenn sich ein Schicksal an das andere reiht und man jedes Mal schon weiß, dass eine völlig banale menschliche Reaktion dazu führt, dass die Verhörmaschine anläuft. Die 32 Porträts, die Nancy Aris aus den Video-Interviews destilliert hat, machen im Grunde die ganze Bandbreite eines gefühllosen Herrschaftsapparates sichtbar, von dem die DDR-Öffentlichkeit immer wusste.
„Dann kommst du nach Bautzen“, war wohl die deutlichste Warnung, die man damals hören konnte. Denn was den jungen Männern und Frauen passierte, die nach Bautzen kamen, das bekamen mindestens ihre Familien mit. Genauso schrecklich und verrufen war die Frauen-Haftanstalt Hoheneck, die gleich auf dem Cover zu sehen ist mit einem Foto aus den letzten Tagen. Ein Foto, das die eisige Leere dieser Haftanstalten besonders deutlich auf den Punkt bringt. Die Haftanstalten waren nicht dazu gedacht, die Gesellschaft vor Kriminellen zu schützen, sondern um Menschen zu brechen, ihnen die letzte Würde zu nehmen, den letzten Mut und den Lebenswillen.
Und man lernt – gerade in den Erzählungen über Untersuchungshaft und Verhöre – die Systematik der Vernehmungsoffiziere, denen es nicht darum ging, irgendwelche Tatbestände zu ermitteln, sondern den Willen der Verhörten zu zerstören und sie zu erniedrigen. Hier wurde einem ganzen (besetzten) Land der Lebensmut und der Wunsch zum Widerspruch ausgetrieben.
Und das einzige, was beim Lesen der Schicksale irgendwann aufatmen lässt, ist die Tatsache, dass die Haftstrafen kürzer werden, die Strafen etwas weniger drakonisch. Und vor allem: Dass auch immer wieder junge Menschen aufbegehrten, obwohl sie um dieses System wussten, sich nichts mehr gefallen lassen wollten und dabei auch nicht allein waren. Aber man erfährt – je näher man den 1980er Jahren kommt – dass diesem Abschreckungsapparat auch ein Lernprozess gegenüberstand. Die Protestformen änderten sich, wurden zunehmend subversiver, suchten sich Schutzräume, die sie dann tatsächlich in einigen Kirchgemeinden fanden.
Selbst die Friedliche Revolution ist ein Ergebnis dieses Prozesses, in dem die staatliche Drohkulisse zunehmend ihre abschreckende Wirkung verlor und junge Menschen lernten, die Staatsmacht mit friedlichen, phantasievollen Mitteln herauszufordern. Auch wenn die Schikanen blieben, die von der Einweisung in Jugendwerkhöfe bis zur Verwehrung von Abitur und Studium reichten.
Man erfährt, wie drakonisch gegen Bewohner des Grenzgebietes vorgegangen wurde, wie man mit – scheinbar – schwer erziehbaren Kindern umging und wie man versuchte, die jungen Männer zu drangsalieren, die lieber Bausoldat wurden, als eine Waffe in die Hand zu nehmen. Die DDR verwandelte sich ja in ihren späten Jahren in eine seltsam wehrertüchtigte Gesellschaft, die alles, aber auch alles verriet, was 1949 noch als Gründungsmythos eines anderen, besseren und vor allem friedlichen Deutschland vertextet wurde.
Alle Zahlen zu den Opfern dieses „vormundschaftlichen Staates“ (Henrich) sind nur Schätzungen, versuchen das Ausmaß dieser In-Angst-Setzung einer ganzen Gesellschaft irgendwie zu fassen – und können doch das Leid nicht fassen, das all jene erlebten, die jahrelang in dieser zermürbenden Maschine gefangen waren. Das können selbst die Aussagen der hier Interviewten nur ahnen lassen. Denn wie erzählt man, wenn sich unaushaltbare Zustände mit Hunger, Kälte, Drill und Verwahrlosung über Jahre hinschleppen, ohne einen Punkt der Hoffnung?
Die Amnestien und Haftentlassungen erfolgten genauso willkürlich wie die Verhaftungen. Und oft genug waren die Betroffenen fürs Leben von Krankheiten gezeichnet.
Umso wichtiger war es, diese Zeugnisse zu bewahren, die Zeugen noch einmal zum Sprechen zu bringen. Denn jene, die ab 1945 jung in die Mühlen dieser Angstjustiz gerieten, die sind heute im hohen Greisenalter, manche sind auch gestorben inzwischen. Die Filme liegen als Unterrichtsmaterial bereit. Doch so ein Buch, das komprimiert die Schicksale von 32 Menschen zeigt, lässt sich natürlich auch langsam lesen, mit Atempausen zwischendurch und dem ganz und gar nicht beruhigenden Wissen, dass das alles nun lange vorbei ist.
Denn es ist nicht vorbei. Die Menschen in diesem Buch haben darüber gesprochen. Aber wir wissen alle, dass die ostdeutsche Gesellschaft insgesamt darüber den Mantel des Schweigens gedeckt hat. Man überlässt das ein paar „Paradiesvögeln“, die sich um Aufarbeitung und Gedenken kümmern. Und wir sehen, wie dieselben Methoden in anderen, uns gar nicht so fernen Ländern wieder angewendet werden, um ganze Völker einzuschüchtern und gefügig zu machen – und dass auch bei uns wieder Leute herumlaufen, die autoritäre Staaten besser finden als Demokratien.
Die DDR hat sich mit diesem System der Willkür schon früh und gründlich desavouiert. Aber die nötige Therapie, die Trauerarbeit, wie es Psychotherapeuten nennen, hat nie stattgefunden. Durfte nie stattfinden. Im Aufgalopp sollte es ja 1990 gleich wieder zu neuen glorreichen Zeiten und blühenden Landschaften gehen.
Das Buch ist wichtig. Und vielleicht auch nur scheinbar ein bisschen dick. Auch wenn man nur die ersten drei, vier, fünf Geschichten schafft, bekommt man ein Gefühl dafür, wie tief die Wunde ist. Und warum man dieses Stück Vergangenheit zwar differenziert betrachten muss – aber niemals verklären darf.
Nancy Aris Das lässt einen nicht mehr los, Evangelische Verlagsanstalt, Leipzig 2017, 14 Euro.
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