Wer kennt schon Arthur Conan Doyle? Nicht nur, weil der Autor zurücktritt hinter seinen viel berühmteren Detektiv Sherlock Holmes, sondern weil man den schnauzbärtigen Schriftsteller nicht als Arzt und leidenschaftlichen Anhänger der Forensik kennt. Die Briten trauten Sherlock Holmes zu, jeden verzwickten Fall zu lösen. Die klugen Briten, stellt Michael Klein fest, wandten sich direkt an Arthur Conan Doyle.

Der war nicht nur ausgebildeter Arzt und hängte seine Arztpraxis an den Nagel, als er mit den ersten Sherlock-Holmes-Geschichten in auflagenstarken Publikumszeitschriften einen unerwartet großen Erfolg hatte. Der hatte auch bei einem Mann studiert, der später in Zügen auch die Figur des Sherlock Holmes formte: Dr. Joseph Bell, „Pionier der Forensik, ein Mann, dessen präzise Beobachtungsgabe, Klarheit in den Schlussfolgerungen und Gewissenhaftigkeit in der wissenschaftlichen Ergründung unentdeckter Zusammenhänge“ nicht nur seine Kollegen beeindruckte, wie Klein schreibt. Und auch nicht nur den jungen Doyle. England war damals nicht nur das Heimatland von Jack the Ripper, sondern auch das Land, in dem die modernen Methoden der Ermittlungsarbeit entwickelt wurden.

Man vergisst es oft: Aber seitdem gehören hochkarätige wissenschaftliche Methoden zur Arbeit der Kriminalpolizei, zusammengefasst in dem Begriff Forensik. Und genau das war auch der Moment, der die Sherlock-Holmes-Geschichten für die Zeitgenossen so faszinierend gemacht hat: Holmes wendet immer wieder wissenschaftliche Methoden an, um seine Fälle zu lösen. Und da geht es nicht nur um Fingerabdrücke, Fußspuren, Aschereste, Staubspuren usw. Das sieht manchmal wie das Spurenlesen der Indianer aus, obwohl Holmes die ganze Zeit arbeitet wie ein Wissenschaftler.

Es geht auch um die wissenschaftliche Hintergrundanalyse, das Aufarbeiten von Vorgeschichten und Motiven, von menschlichen Beziehungen und das Hinterfragen von Vorurteilen. Denn wenn Kriminalbeamte sich bei der Bearbeitung eines Falls in eine einzige Spur verbeißen, dann kann das zur Katastrophe werden – zumeist für völlig unschuldige Menschen. Und Polizisten sind nicht frei von Fehlern und Vorurteilen, sie wollen ihre Fälle schnell klären und den Täter möglichst bald vor Gericht sehen. Wenn sie dabei den Falschen jagen, kann es passieren, dass die wahren Täter entkommen und ihre Spuren verwischen können.

Es ist kein leichter Job, den Kriminalpolizisten da haben. Und er wird ihnen auch nicht leichter gemacht, wenn sparwütige Politiker die Gelder für die Forensik knapp halten oder gar streichen, wie das in vielen Bereichen der Rechtsmedizin in Deutschland passiert ist.

Es gibt mehrere Fälle, in denen Arthur Conan Doyle um Hilfe gebeten wurde und auch mit Rat und Tat half. Auch deshalb helfen konnte, weil er sich genauso akribisch wie sein literarischer Held in die Arbeit stürzte. Am berühmtesten wurde der Fall Edalji, der Fall eines Rechtsanwalts mit indischen Wurzeln, der zu Unrecht der Tötung von Tieren und des Schreibens fingierter Drohbriefe bezichtigt worden war. Der begnadete englische Autor Julian Barnes hat aus diesem Fall einen ganzen Roman gemacht: „Arthur & George“. Etwas eigenwillig, meint Michael Klein, der nun mit diesem Buch hier den zweiten aufsehenerregenden Fall vorlegt, in dem Doyle sich ins Zeug legte – auch wenn er erst spät Erfolg hatte.

Die Voraussetzungen waren ganz ähnlich: Die Polizei in Glasgow hatte sich gleich zu Beginn der Ermittlungen nach dem Mord an einer reichen Witwe in eine einzige Spur verrannt und alles dafür getan, ihren ersten Verdächtigen vor Gericht zu bringen – den Spieler und Lebemann Oscar Slater, einen Mann mit deutsch-jüdischen Wurzeln. Aufgrund vager Zeugenaussagen wurde er zum Tode verurteilt und nach einem Begnadigungsgesuch seiner Anwälte erst zwei Tage vor der geplanten Hinrichtung zu lebenslänglich begnadigt. Aber da begann für Doyle die Geschichte erst, der sich mit wissenschaftlicher Strenge durch die Prozessakten wühlte und schon nach dieser Lektüre feststellen konnte, dass Slater keinen gerechten Prozess bekommen hatte.

Darüber schrieb Doyle 1912 – nicht nur große, aufsehenerregende Artikel in den Zeitungen – sondern aufgrund der Materialfülle auch gleich ein Buch, das wie die meisten seiner Bücher zum Bestseller wurde und so viel Rummel verursachte, dass Doyle zu Recht damit rechnen konnte, dass der Fall neu aufgerollt würde.

Doch genau das geschah nicht.

Er hatte nicht damit gerechnet, dass sich die Glasgower Polizei, die Justiz und sogar die zuständigen schottischen Innenminister regelrecht einmauern würden, alle Fehler abstreiten und sich jeder Kritik regelrecht verwehren könnten. Was für einen Polizisten, der die große Vertuschung nicht mitmachen wollte, zum Verhängnis wurde. Man darf sich durchaus auch an einige sächsische Vorfälle erinnern. Da hilft es auch nichts, wenn sich ein Beamter die Rückendeckung des zuständigen Ministers holt: Wer aus dem Nähkästchen plaudert und verrät, dass bei den Untersuchungen eines so wichtigen Falles geschlampert, getrickst und vertuscht wurde, der riskiert seinen Job und seine Pension.

Und vielleicht hätte auch Doyle nichts mehr über den Fall geschrieben, hätte ihn nicht 1927 die unermüdliche Arbeit eines unerschrockenen Journalisten wieder ermutigt. Oscar Slater saß da immer noch im Zuchthaus, hatte auch nicht einmal die sonst übliche Entlassung nach 15 Jahren bekommen, die andere Lebenslängliche meist bekamen. Einige der Zeugen waren gestorben, andere so abgetaucht, dass Doyle glaubte, sie seien tot. Doch noch einmal setzte er sich hin. Doch diesmal nicht mit der Zurückhaltung wie 1912, wo er nur vorsichtig das Wort Skandal verwendet hatte.

Diesmal klagte er an, warf den Ermittlern der Glasgower Polizei nicht mehr nur Schlamperei vor, sondern Unterdrückung von Beweisen und den gezielten Versuch, den wahren Täter zu decken. Den parteiischen Staatsanwalt und den Richter machte er genauso zu Beteiligten eines Mordversuches wie die zuständige Regierung. Denn wenn dem Gnadengesuch nicht stattgegeben worden wäre, hätte man Slater einfach hingerichtet. Wie wahrscheinlich viele andere Unschuldige, deren Fälle für alle Zeit unaufgeklärt bleiben würden.

Als hätte Doyle schon das vorausgesehen, was heute Thema in den USA ist, wo engagierte Anwälte und Hilfsorganisationen darum kämpfen, unschuldig Verurteilte vor der Giftspritze zu retten und immer neue Fälle bekannt werden, in denen eine Nachuntersuchung die Unschuld der oft schon seit Jahrzehnten Eingesperrten bewiesen hat.

Die Gründe für die Verurteilung waren fast immer dieselben, die auch Oscar Slater zum Verhängnis wurden: schlampige Ermittlungen, Fixierung der Polizei auf einen einzigen Hauptverdächtigen, in den sich oft genug auch noch kulturelle und ethnische Vorurteile projizierten, voreingenommene Geschworene, Anwälte und Richter und immer wieder das Fehlen wissenschaftlicher Arbeitsmethoden. Dass das weder nur für die USA noch England typisch ist, zeigt ja aktuell der Bombenanschlag auf eine Dresdner Moschee, als nicht einmal eine professionelle Tatortsicherung zustande kam. Sherlock Holmes hätte nur den Kopf geschüttelt. Aber auch im 21. Jahrhundert neigen Polizeibeamte zu Schluderei, wenn ihnen ein Fall nicht wichtig erscheint.

Michael Klein kann also für dieses Buch zwei seinerzeit wirkungsvolle Veröffentlichungen aus der Feder Arthur Conan Doyles zum Fall Oscar Slater zusammenstellen, ergänzt um das Gnadengesuch für den Verurteilten. Schon das ist interessantes Lesefutter für Anhänger des Sherlock Holmes und seines für die Gerechtigkeit kämpfenden Schöpfers. Auch wenn es Doyle in diesem Fall schwerfiel, weil Slater eindeutig nicht aus der Klasse stammte, in der er selbst unterwegs war. Was vielleicht auch dazu führte, dass er unterschätzte, wie sehr die Glasgower High Society selbst daran interessiert war, dass bestimmte Namen in diesem Fall nie auftauchen durften und schon von der Polizei unterdrückt wurden.

Wie es dann 1927 – auch durch Doyles zweite Schrift ausgelöst – dann doch noch zu einem kleinen Erdrutsch kam, das schildert Michael Klein dann sehr ausführlich in seinem anschließenden Essay, in dem er auch die Entwicklungen nach dem Tod des 1930 verstorbenen Arthur Conan Doyle darlegen kann, auch wenn der Fall Oscar Slater nie wieder vor Gericht aufgerollt wurde. Was natürlich auch den diversen Autoren Kopfzerbrechen bereitet, die im Nachhinein versuchen, den Tathergang zu rekonstruieren und den richtigen Täter zu finden. Denn Slater war es ja eindeutig nicht, das belegen die alten Prozessakten nur zu gut.

Dabei wird deutlich, wie sehr es Doyle immer darum ging, ein Rechtssystem zu fordern, dass tatsächlich Gerechtigkeit schafft. Ob die Täter dabei – aus seiner Sicht – eher dubiose Gestalten waren, war ihm egal. Er wusste aus eigener Erfahrung zu gut, wie schnell man als unbescholtener Mensch unter (Mord-)Verdacht geraten konnte, wenn man einfach nur dem möglichen Täter ähnelte oder zur falschen Zeit am falschen Ort war. Nichts ist so trügerisch wie das Gedächtnis von Zeugen. Und während der Fall Edalji dazu führte, dass in England endlich auch eine Berufungsinstanz eingeführt wurde, machte der Fall Slater deutlich, dass man für schwerwiegende Fälle deutlich mehr brauchte als ein paar unzuverlässige Zeugenaussagen.

Im Grund plädiert Doyle in seinen beiden Streitschriften vor allem dafür, dass die Polizei wissenschaftliche Arbeitsmethoden wirklich ernst nimmt – mit allen Konsequenzen. Auch wenn dann lieb gewordene Tatwerkzeuge sich als völlig unmöglich erweisen oder die Arbeit am Tatort andere Ermittlungsansätze erzwingt als es die ersten Zeugenaussagen ergeben hätten.

Man spürt eigentlich die Wut des Wissenschaftlers über die unwissenschaftliche Schluderei in den Ermittlungen im Fall Slater, der eigentlich ja ein Fall Gilchrist war, wie die Ermordete hieß. Dass die Schlamperei System hatte, das konnte er auch erst 1914 ahnen, als der Leutnant der Glasgower Polizei John Thomson Trench mit seinen Aussagen an die Öffentlichkeit trat – und sich damit seine Karriere und seinen Ruhestand ruinierte.

So lernt der Leser auch einmal Arthur Conan Doyle selbst kennen als einen Mann, der Fälle genauso ernsthaft und wissenschaftlich anging wie sein Held Sherlock Holmes, der eben nicht nur den berühmten Auguste Dupin von Edgar Allen Poe als Vorbild hat und den verehrten Dr. Joseph Bell, es steckte eben auch ein gut Teil Arthur Conan Doyle selbst in diesem Holmes mit seinem chemischen Laboratorium, das Dr. Watson immer so beeindruckte. Dass die meisten Hilfesuchenden sich dann mit ihren Briefen an Dr. Watson wandten in der Baker Street 221b, gehört dann zu den hübschen Umwegen in der Literatur. Die Briefe wurden von der englischen Post aber trotzdem an Arthur Conan Doyle weitergeleitet. Manchmal konnte er helfen. Manchmal scheiterte er aber auch – wie im Fall Oscar Slater – an der Ignoranz der Mächtigen.

Arthur Conan Doyle Der Fall Oscar Slater, Morio Verlag, Heidelberg 2016, 19,95 Euro.

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