Seit gut zwei Jahren schaut man auch aus Deutschland wieder verstärkt nach Russland. Mit dem Einmarsch auf der Krim und in der Ost-Ukraine scheint Russland wieder auf dem Weg zu einer Großmacht zu sein, die ihre Interessen mit militärischer Gewalt durchzudrücken versucht. Immer wieder steht Präsident Putin im Fokus der Aufmerksamkeit. Welche Rolle spielt er tatsächlich? Und welche Rolle spielte er beim Mord an Boris Nemzow am 27. Februar 2015?

Man kann ja die Berichterstattung über das Putinsche Russland nicht mehr wirklich wahrnehmen, ohne die Anhimmelung des russischen Präsidenten bei diversen Kundgebungen auf deutschen Straßen. Als wäre der ehemalige KGB-Agent ein neuer Gorbatschow und würde ausgerechnet der Bundesrepublik Deutschland die Segnungen einer stabilen und freien Demokratie bringen können. Vieles deutet darauf hin, dass der selbstherrliche Präsident alle Fäden zieht, um über radikale nationalistische Bewegungen in Europa Einfluss zu gewinnen und gleichzeitig das Außenbild seiner Regierung zu beeinflussen, denn besonders gut kommt der Mann im Kreml in den europäischen Medien nicht mehr weg.

Kurz war die Zeit, als er als Nachfolger von Boris Jelzin wie ein Hoffnungsträger wirkte, dem es vielleicht gelingen könnte, das riesige Land aus seiner wirtschaftlichen Misere und der extremen Abhängigkeit vom Ölpreis herauszuführen. Doch schon früh bekam das Bild Risse, zeigten Putins Reaktionen auf den Untergang der „Kursk“ (2000), die terroristischen Geiselnahmen in Moskau (2003) und Beslan (2004), dass da keineswegs ein Mann im Kreml saß, der sich wirklich sorgte um sein Volk. Fast zehn Jahre profitierte Putin vom hohen Ölpreis, der den russischen Staatshaushalt füllte und eigentlich die Grundlage dafür hätte bieten können, die in den 1990er-Jahren unter Jelzin begonnenen Reformen fortzusetzen, die Bildungs- und Sozialpolitik auf feste Füße zu stellen und die Demokratie im Land zu stärken.

Doch all das ist nicht passiert. Einen Großteil seiner Energie hat Putin darauf verwendet, die Opposition im Land auszuschalten, mit immer neuen Sondergesetzen zu kriminalisieren und letztlich auch von jeder öffentlichen Wahrnehmung abzuschneiden.

Da ist man dann mitten in diesem Buch und den Erinnerungen Schanna Nemzowas an ihren Vater Boris Nemzow, der unter Jelzin zeitweilig als potenzieller Nachfolger gehandelt wurde, aber schon damals schnellstmöglich abserviert wurde, als er sich mit den russischen Oligarchen anlegte. Das ist eine Gruppe von rund 110 Personen, denen es in der wilden Zeit der Privatisierungen Anfang der 1990er-Jahre gelungen ist, sich den Zugriff auf die wertvollsten vorher staatlichen Industrien und Wirtschaftsunternehmen zu sichern – teilweise mit mehr als dubiosen Methoden. Und sie sicherten sich auch den kompletten Zugriff auf die Medien und vor allem die Macht.

Vielleicht gibt es einmal das große, durchrecherchierte Buch, das erzählt, wie der damalige Geheimdienstchef Wladimir Putin hinter den Kulissen als Nachfolger Jelzins installiert wurde – vor allem als Sachwalter der großen Oligarchen. Als Tochter von Boris Nemzow hat Schanna Nemzowa diese Entwicklung im Grunde immer aus nächster Distanz miterlebt – in der hoffnungsvollen Zeit, als Boris Nemzow Gouverneur in Nischni Nowgorod war und schon damals seine politische Arbeit über sein Privatleben stellte. Möglich, dass er der Moskauer Elite zu selbstbewusst und deshalb gefährlich war und Jelzin ihn deshalb nach Moskau holte und als stellvertretenden Ministerpräsidenten installierte, auf einen Posten, auf dem Nemzow gar nicht anders konnte, als sich entweder mit den Oligarchen anzulegen – oder sich anzupassen.

Wer eine systematische Aufarbeitung des Lebens von Boris Nemzow erwartet, wird positiv enttäuscht, denn seine Tochter treiben – nicht erst seit dem 27. Februar 2015 – ganz andere Fragen um. Fragen, die sich auch mit ihrem eigenen Mut beschäftigen und der Frage: Wie viel Aufrichtigkeit kann man in einem Land noch leben, in dem das System Putin alle Lebensbereiche durchdringt, ein großer Teil der Bevölkerung in schierer Armut lebt und damit beschäftigt ist, um das Lebensnotwendigste zu kämpfen, wo die Medien den großen Oligarchen gehören und weitgehend alle gleichgeschaltet sind und nur noch die Putinsche Sicht auf die Welt verbreiten? Etwas, was den deutschen Putin-Apologeten nicht mal bewusst zu sein scheint. Was passiert mit den Einstellungen und Meinungen in einem Volk, das von den Rundfunksendern nur noch die Putinsche Sicht präsentiert bekommt, wo die Öfentlichkeit erst dann etwas über die Opposition erfährt, wenn wieder eine Rufmord-Kampagne nach Stalinschem Muster losgetreten wird mit wilden Lügenmärchen und Unterstellungen, was für die Betroffenen in der Regel dann umgehend mit Verhaftung, Gerichtsprozess und langen Gefängnisstrafen endet.

Da braucht es mehr als Mut, um weiterhin die letzten verbliebenen Kanäle zu nutzen, um Putins Kriege zu kritisieren, so, wie es Nemzow getan hat – auch da noch,  als er längst die ziemlich offenen Morddrohungen bekommen hatte. Schanna Nemzowa, die bis Anfang 2015 als Journalistin bei einem noch relativ eigenständigen Moskauer Sender arbeitete, erzählt auch von dieser zunehmend beklemmenderen Stimmung, die sich bis in den Freundeskreis bemerkbar machte. Wer sich kritisch zum Putin-Regime äußerte oder auf Protestkundgebungen auftauchte, musste auch mit Restriktionen seiner Arbeit rechnen, mit Gefahr für Leib und Leben. Gerade weil sich die Autorin sehr emotional an die Zeit mit ihrem Vater und an die Veränderungen im Moskau der Putin-Zeit erinnert, wird die Stimmung spürbar, die mittlerweile über ganz Russland liegt, eine Stimmung, die in mancher Hinsicht an die vergangen geglaubte Stalin-Zeit erinnert. Was kein Zufall ist, denn im KGB und dem Nachfolger FSB haben sich ja die alten Denkweisen und Methoden konserviert.

Eine Gewaltenteilung, so Schanna Nemzowa, in dem Sinn, wie sie die Westeuropäer verstehen, gibt es in Russland nicht. Wer mit fadenscheinigen Anklagen vor Gericht landet, kann nicht damit rechnen, auf unabhängige Richter zu treffen, die nach Recht und Gesetz urteilen. Und wer die ersten Drohungen bekommt, der kann auch nicht damit rechnen, dass er bei der Polizei mehr bekommt als ein Achselzucken. Denn Regime, die sich nicht auf eine echte demokratische Wahl stützen können (die Wahlfälschungen der jüngsten Zeit haben deutliche Wellen geschlagen), sind immer Regime der Angst: Sie schüren diese, indem sie alle möglichen politischen Gegner einschüchtern oder kriminalisieren. Und sie versuchen die Angst zu exportieren, indem sie neue äußere Feinde propagieren und sich als kriegerische Macht gerieren. Seit 2011 ist das ziemlich offenkundig – aber mit dem Verfall des Ölpreises ab 2014 ist es unübersehbar. Und unübersehbar ist auch, dass Russland gerade in dem Moment versucht, sich wieder als militärische Großmacht zu inszenieren, in dem die Wirtschaft in eine tiefe Krise gerät und der fallende Ölpreis auch die Staatsausgaben und die Einkommen der Russen mit in den Keller reißt.

Selbst deutsche Wirtschaftsverbände glauben ja felsenfest, dass es die Sanktionen des Westens sind, die Russland in die Krise gestürzt haben. Vielleicht sollten doch ein paar mehr Leute, die sich zu Russland äußern, dieses Buch lesen, das gerade über die Person von Boris Nemzow zeigt, wie eng das alle zusammenhängt: Demokratie, freie Medien, wirtschaftliche Reformen und ein stabiler Wohlstand. Und wie wenig davon heute in Russland zu finden ist, einem Land, in dem superreiche Oligarchen im Grunde bestimmen, welche Politik gemacht wird. Egal, wie irrational das dann ist, wenn man an den unheiligen Pakt Putins mit dem syrischen Diktator Assad denkt und die russischen Bomben auf syrische Großstädte.

Schanna Nemzowa hat wenige Wochen nach dem Mord an ihrem Vater Russland verlassen, lebt jetzt in Deutschland und merkt fast lapidar an, welches Geschenk es für die Deutschen eigentlich ist, eine funktionierende Demokratie mit leidlich funktionierender Gewaltenteilung zu haben. Und ihr Buch ist natürlich mehr als nur die sehr emotionale und reiche Erinnerung an einen Vater, der ihr immer Vorbild war mit seiner Aufrichtigkeit und seinem Mut, die Dinge anzupacken und beim Namen zu nennen. Mit der Ermordung von Boris Nemzow hat Russland den wohl talentiertesten seiner aktuellen Politiker verloren – und wohl auch den gefährlichsten für das Putin-Regime. Zumindest für den Fall, dass es tatsächlich einmal wieder freie, nicht manipulierte Wahlen mit freier Medienberichterstattung gibt.

Als Journalistin weiß Schanna Nemzowa, welche Macht linientreu gemachte Sendeanstalten haben, wenn sie jede Opposition mit Propaganda, Lüge und Herabwürdigung in Endlosschleife niedermachen können. Binnen weniger Wochen können so Beliebtheitswerte in den Keller geschickt werden oder kann die Nicht-Zustimmung eines Volkes zu kriegerischen Aktionen zu einer Befürwortung des Krieges in der Ukraine umgedreht werden. So wird eine Schein-Zustimmung für die Putin-Regierung erzeugt, stellt die Autorin fest, die im Fall von Putins Abgang wohl regelrecht in sich zusammenfiele.

Das System Putin an sich sei fragil, gerade in Zeiten, in denen der niedrige Ölpreis die Wirtschaftskrise im Land für große Bevölkerungsteile spürbar mache. Doch schon seit Jahren gibt es einen großen Braindrain raus aus Russland. Über 300.000 – meist junge und gut ausgebildete Russen – verlassen das Land jedes Jahr, gehen in den Westen, weil es für sie auch keine berufliche Perspektive im Putin-Russland gibt. Denn der moderne Wirtschaftserfolg hängt nicht mehr von Rohstoffen ab, sondern von Bildung, Wissenschaft und Forschung. Doch erfolgreiche Forschung und innovative Unternehmensgründungen gibt es nur in freien Gesellschaften.

Es ist ein kluges, stellenweise schön analytisches Buch, dem man anmerkt, dass Schanna Nemzowa ihren Vater nicht nur verehrt hat, sondern von ihm dieselbe kluge, kritische Sicht auf die Gesellschaft und die Politik übernommen hat. Und vor allem auch diese unnachgiebige Hoffnung, dass die Zukunft Russlands eine andere sein wird, wenn Putin nicht mehr im Amt ist und sich die demokratischen Stimmen wieder einbringen können. Es wäre trotzdem ein Marathon, dieses Land wieder zu einem demokratischen und lebendigen Land zu machen, in dem auch endlich die notwendigen Reformen angepackt werden. Jetzt, so stellt sie fest, ducken sich die meisten Russen nur weg, versuchen sich irgendwie dem System anzupassen und ja nicht aufzufallen. Denn längst haben die Geheimdienste die Überwachung (wie in  alten Zeiten) auf sämliche Medienkanäle ausgeweitet.

Ihr Buch ist eine Botschaft – Boris Nemzows Kampf für Demokratie und Freiheit möge nicht vergessen werden, der Mord an ihrem Vater möge doch noch aufgeklärt werden und das andere, das freiheitsliebende Russland würde wieder eine Stimme bekommen und sich aufraffen, ein modernes, freies Russland zu werden, wie Nemzow es sich erträumt hat. Das wäre dann ein Russland, mit dem es sich wieder zu kooperieren lohnte, das wirklich Partner wäre und ein faires Gegenüber in politischen Friedensgesprächen.

Jetzt haben es auch europäische Regierungen immer nur mit einer Putin-Regierung zu tun, die auch den ganzen nationalistischen Trommelwirbel vor allem veranstaltet, um die eigenen, privaten Interessen zu bemänteln. Auch das wird gern vergessen, wenn heute über die modernen Diktatoren gesprochen wird: dass ihnen das Wohlergehen und der Frieden ihres Landes gar nichts bedeuten. Sie regieren nur im eigenen Interesse, im Interesse des eigenen Clans und der eigenen Bereicherung.

„Mit der Freiheit ist es wie mit dem Sauerstoff beim Tauchen“, zitiert Schanna Nemzowa ihren Vater. „So lange man sie hat, bemerkt man sie nicht, genauso wenig wie die Luft, die man atmet. Aber wenn die Luft fehlt, führt das über kurz oder lang zur Katastrophe …“

Es ist – ganz beiläufig – auch eine Mahnung an uns und unseren Umgang mit jenen Leuten, die jetzt nach Putin rufen, als wollten sie schnellstens von der Freiheit befreit werden. Das ist nicht nur närrisch – das ist brandgefährlich.

Schanna Nemzowa: Russland wachrütteln. Mein Vater Boris Nemzow und sein politisches Erbe, Ullstein, Berlin 2016, 18 Euro.

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