Im Oktober stellte Philipp Ther sein Buch "Die neue Ordnung auf dem alten Kontinent" in Leipzig in der Nationalbibliothek vor. Fünf Tage vorm Lichtfest, mit dem Leipzig 25 Jahre Friedliche Revolution gefeiert hat. Ein künstlicher Begriff, der auch versucht zu fassen, was da 1989 geschah. War es nicht eher ein Umbau, eine "Wende", wie die Ostdeutschen so gern sagen? Und wie bitteschön ordnet sich das Ganze ein in die komplette Transformation Osteuropas? - Das braucht dann schon die Perspektive des Historikers.
Philipp Ther ist einer, hat heute die Professur für Osteuropäische Geschichte an der Uni Wien inne. Doch der 1967 Geborene hat sich mit dem Osten Europas schon beschäftigt, da war der Ostblock für die meisten Forscher und Journalisten im Westen noch terra incognita. Da und dort ein Hauptstadtreporter, ein paar Nachrichten über Bürgerrechtler und ihre Aktionen oder die sichtlich heruntergekommene Landschaft. Aber kaum eine wirtschaftliche Analyse, keine Untersuchung über den unterschiedlichen Umgang der diversen Staaten mit ihrer Wirtschaft, ihre Versuche, der Modernisierung hinterherzuhecheln, oder ein bisschen Unternehmertum zu implementieren. Und weil die östlichen Regierungen dazu selbst nichts publizierten, wirkt das Jahr 1989 heute wie eine Stunde Null. Als hätten da alle gemeinsam erst entdeckt, wie heruntergewirtschaftet die Planwirtschaften allesamt waren.
Im Grunde macht Ther etwas, wofür man in der Regel ganze Mannschaften zur Recherche anstellt: Er nimmt die wirtschaftlichen und politischen Entwicklungen praktisch im gesamten Raum von Bulgarien bis zu den baltischen Ländern unter die Lupe, er hat sich die Entwicklungszahlen von Einkommen und Bruttoinlandsprodukt (BIP) besorgt, Unternehmensanmeldungen, Steuerquoten, Staatsquote und was es an Daten noch so gibt. Und er kennt die Länder aus eigenem Erleben, hat ein ganzes Netzwerk von Freunden und Kollegen in Polen, der Ukraine, Tschechien, kennt also auch die Seite, die in den Statistiken nie zu sehen ist: das Leben der Menschen selbst mit all den Umbrüchen, Existenznöten, Anpassungserfahrungen.
Und er weiß – was auch die heutigen Kommentatoren meist nicht (mehr) wissen: wie hoch der Anpassungsdruck für alle Staaten Ost- und Südosteuropas war. Nicht erst 1989. Schon lange vorher, als die komplette westliche Welt noch glaubte, es mit einem erstaunlich stabilen, von keiner Krise gebeutelten Staatensystem zu tun zu haben. Es war wie eine Black Box, auch wenn die Regierungen, Banken und Manager des Westens wohl zumindest eine Ahnung haben mussten, dass sie es mit einem Koloss auf tönernen Füßen zu tun hatten, der spätestens seit den beiden Ölkrisen in den 1970er Jahren nicht mehr in der Lage war, das Entwicklungstempo der westlichen Industriestaaten mitzuhalten.
Denn dafür hätte es Investitionen gebraucht, eine permanente Modernisierung der Wirtschaft, die aber aus eigener Kraft nicht zu erwirtschaften war. Das war der Zeitpunkt, an dem sich die Regierungen des Ostblocks begannen zu verschulden – die einen mehr (Ungarn), die anderen weniger (DDR). Aber gemeinsam war ihnen allen: Sie konnten ihre Schulden am Ende nicht mehr bedienen oder abtragen. Das Märchen von einer freigiebigen Sozialpolitik war ausgeträumt.
Die Transformation sämtlicher Staaten im Verfügungsbereich der Sowjetunion war überfällig, als die Bürger 1989 auf die Straße gingen. Oder als die Regierungen – wie in Ungarn und Polen – selbst begannen, mit der Opposition an Runden Tischen über den Umbau von Gesellschaft und Wirtschaft zu verhandeln. Übrigens beides Argumente gegen die Verwendung des Begriffs “Revolution”. Und für Philipp Ther gute Gründe, all das, was da 1989 über die Bühne ging, als “Verhandelte Revolution” zu bezeichnen.
Die Frage war nur: Wie würden all diese Staaten, deren Produktionsniveau teilweise nur ein Drittel der westeuropäischen Staaten betrug, die wirtschaftliche Transformation schaffen? Welchen Weg würden sie wählen? Oder: Hatten sie überhaupt eine Wahl? Und: Gehört Ostdeutschland überhaupt dazu? Hatten die Ostdeutschen nicht einen Sonderweg?Hatten sie nicht, stellt Ther fest.
Auch wenn es manchmal so aussieht, als wäre der Weg der DDR ins vereinigte Deutschland besonders dick mit Geldscheinen gepflastert gewesen. Am Wesentlichen ändert es nichts: Dass alle Staaten Osteuropas ab 1990 einen zuweilen knallharten neoliberalen Umbaukurs verpasst bekamen. Auch Ostdeutschland. Nur dass hier keine Beraterteams des IWF einflogen und der neu gewählten Regierung die Patentrezepte der neoliberalen Schocktherapie empfehlen mussten. In Ostdeutschland besorgten das vor allem zwei Schocks aus Eigenproduktion: die Währungsunion im August 1990, die fast die komplette DDR-Wirtschaft über Nacht nicht mehr wettbewerbsfähig machte, und der verschärfte Kurs der Treuhandanstalt, die in einem Affengalopp alles zu verkaufen (zu privatisieren) versuchte, was irgendwie noch übrig geblieben war. Der Effekt war derselbe: eine flächendeckende Deregulierung und Privatisierung, gefolgt von einer radikalen Verschlankung des Staatsapparates und der Etablierung eines deutlich niedrigeren Lohnniveaus als im Westen.
Wichtige Zwischenbemerkung: Philipp Ther versucht den neoliberalen Instrumentenkasten möglichst wertfrei zu interpretieren, denn einen Vergleich mit einem möglichen anderen Weg der Transformation gibt es nicht. Alle Staaten Osteuropas gingen den neoliberalen Weg, der auch – Stichwort: Schocktherapie – mit dem Versprechen gekoppelt war, dass eine schnelle, radikale Operation zwar richtig weh tun würde, aber danach würden sich die freien Kräfte des Marktes von allein bemerkbar machen und das Land binnen weniger Jahre wettbewerbsfähig machen. Das Rezept der neoliberalen Schocktherapie ist für Politiker geradezu bestechend. Nur hatte man eines vorher noch nie gemacht: einen halben Kontinent praktisch in einem Aufwasch einer Schocktherapie zu unterziehen.
Noch eine Zwischenbemerkung: Ein Alternativkonzept gab es zwar damals noch nicht. Mittlerweile aber hat sich eines etabliert und auch gezeigt, dass man solche Transformationen auch ohne Demokratie durchziehen kann: das ist das staatskapitalistische Konzept, das insbesondere China bislang erfolgreich praktiziert, Russland versucht es mittlerweile auch und ist gerade dabei, eine eigene Wirtschaftssphäre zu schaffen, die besonders für Politiker interessant ist, die das autokratische Regieren lieben – die aktuelle Regierung in Ungarn zum Beispiel.
Besonders spannend ist Thers Untersuchung, weil er auch die Vergleiche zu westlichen Metropolen und Ländern anstellt. Zu Metropolen deshalb, weil sich der wirtschaftliche Aufschwung im Osten fast überall stark auf die Hauptstädte konzentriert. Teilweise haben Städte wie Warschau, Prag, Budapest und Bratislava längst ein BIP erreicht, das sich in Augenhöhe mit Städten wie Wien und Berlin befindet. Letzteres übrigens der spannendste Bezugspunkt, den Ther wählt. Denn er beantwortet damit einmal eine Frage, die auch die ganze Reihe der Regierenden Bürgermeister Berlins meist nicht beantworten konnte, außer mit dem flapsigen Spruch: “Arm. Aber sexy.”
Aber woran lag es, dass Berlin nicht in die Pötte kam?
Mehr dazu im zweiten Teil der Buchbesprechung auf L-IZ.de
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