Bis Leipziger Verlage mit ihren Bรผchern auf den Nominiertenlisten diverser Buchpreise auftauchen, werden wohl noch so um die 22 Jahre vergehen. Was nichts mit der Qualitรคt der Bรผcher zu tun hat, sondern mit der Wahrnehmungsschwelle. Hรคtte ein Mรผnchner oder Hamburger Verlag dieses Buch vorgelegt, es wรคre wohl ganz anders. Bernhard Streck, bis 2010 Professor an der Uni Leipzig, hat ein Schlรผsselbuch geschrieben. Das Schlรผsselbuch zur Glaubenswelt unserer Vorfahren, bevor der Monotheismus seinen Siegeszug antrat.

Diese Glaubenswelt ist nicht in Bรผchern und Schriften festgehalten. Sie ist ein Konstrukt. Da und dort ist sie in Spuren in Berichten รผber die einst als heidnisch verstandenen Vรถlker zu finden. Zumeist in der abwehrenden Haltung jener Schriftkulturen, die sich als zivilisiert verstanden โ€“ und die Vรถlker, die man kolonisieren wollte, dagegen als barbarisch.

Aber nicht nur in diesen alten Mythen haben die Glaubenswelten der noch nicht missionierten Vรถlker รผberlebt. Sie รผberlebten auch in jenen Erdteilen, die erst in den vergangenen 500 Jahren von den Europรคern kolonisiert und missioniert wurden. Das war fast immer eins. Mit den Eroberern kamen die Missionare, um den Heiden ihre Heilsbotschaft zu bringen. Manchmal mit Gewalt. Das erlebten die Sachsen in der Zeit Karls des GroรŸen, das erlebten die Slawen bei der deutschen Ostexpansion, das erlebten die Ureinwohner Nord-, Mittel- und Sรผdamerikas, als die Spanier, Portugiesen und Englรคnder kamen.

Nur wird die geistige Revolution, die damit einher geht, in den meisten Geschichtsbรผchern gar nicht weiter beleuchtet. Es ist eben so. Die Ureinwohner haben ihren barbarischen Kult, dienen blutrรผnstigen Gรถtzen, ihnen muss die Botschaft gebracht und beigebracht werden. Auf Teufel komm raus. Womit man schon bei jener Gestalt wรคre, in der unsere eigenen heidnischen Wurzeln selbst in der Bibel รผberlebt haben.

Streck legt keine neuen Forschungsergebnisse vor. Doch er schafft in diesem Buch eine Gesamtschau รผber die Forschungsergebnisse der modernen Ethnologie, wie man sie lange nicht gelesen hat. Dadurch, dass er die Forschungen von hunderten Ethnologen โ€“ aber auch von aufmerksamen Missionaren, die selber Ethnologen wurden โ€“ zusammenfรผhrt wie ein gewaltiges Mosaik, entstehen Konturen, verdichtet sich ein Bild. Was oft nur als bruchstรผckhafter Blick in die seltsame Glaubenswelt einzelner afrikanischer, australischer, sรผdamerikanischer Stammesgemeinschaften sichtbar war, enthรผllt nun seine Parallelen. Es schรคlt sich heraus, wie Menschen vor der Ausbildung der monotheistischen Weltbilder dachten, fรผhlten, sich verorteten.Es ist auch ein Bild eines langen Bewusstwerdungsprozesses, den eines bestimmte: Die Menschen hatten noch keine Macht รผber die Welt. โ€œDie Welt auรŸer Kontrolleโ€ รผberschreibt Streck das erste Kapitel, in dem er aufzeigt, wie sich die Menschen รผberall in der Welt mit den vorgefundenen Urgewalten arrangierten. Sie waren auch den alten Griechen noch Basis ihres Selbstverstรคndnisses: die Elemente Wasser, Erde, Himmel und Feuer, mit all ihren Personifizierungen, die den alten, ursprรผnglichen Gรถtterhimmel ausmachten.

Das Staunen war immer gepaart mit der Furcht und dem Entsetzen. Kein Substantiv benutzt Streck รถfter als den Fachterminus Hierophanie, die man als Gestaltwerdung des Heiligen deuten kann โ€“ aber auch als des Unfassbaren, Unkontrollierbaren. Und nicht nur zu den Elementen hatten die Menschen eine magische Beziehung โ€“ die mancher Anhรคnger der modernen Esoterik so gern wieder erleben mรถchte. Diesem Urverstรคndnis davon, dass nicht nur die Urdinge heilig und unfassbar sind.

Sondern auch all das, was die Menschen in diese Welt einbindet: sein eigenes Menschsein mit Geburt, Sexualitรคt, Tod und Traum. Seine Beziehungen zur Pflanzenwelt, zur Tierwelt und zur Zeit, die er noch nicht in Kalender verpackt und von Uhren messen lรคsst. Kapitel um Kapitel wird eine Welt fassbarer, die sich von unserer auf Effizienz und Eile getakteten Welt grรผndlich unterscheidet. Erde und Himmel stehen noch in enger Wechselbeziehung. Die Menschen waren davon abhรคngig, dass ihre Welt โ€œfunktionierteโ€, dass die Regen kamen und die groรŸen Tierherden, dass die Dinge im Fluss blieben. โ€œPantha rheiโ€ ist keine spรคte griechische Erfindung, sondern das Urverstรคndnis dafรผr, dass das gefรคhrdete menschliche Leben davon abhรคngig ist, dass โ€œalles flieรŸtโ€. Und im Fluss bleibt. Damit haben die meisten Kulte zu tun โ€“ und die Opferkulte, bei denen auch und zuallererst Menschenblut floss.

Es galt fรผr die meisten dieser Ur-Vรถlker als selbstverstรคndlich, dass sie geben mussten, wenn sie empfangen wollten. Und so waren ihre Feste und religiรถsen Zeremonien verschwenderisch.

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Stรผck fรผr Stรผck arbeitet sich Streck durch all die Bezรผge, mit denen Menschen in dieser Vorzeit versuchten, die Dinge im Fluss zu halten. Auch die ursprรผngliche Kunst gehรถrte dazu. Sie hat religiรถse Wurzeln. Wie unsere Feste, die immer nur kaschieren, dass sie eigentlich die christliche รœbermalung wichtiger โ€œheidnischerโ€ Feste waren โ€“ Feste der Fruchtbarkeit, von Tod und Auferstehung, Diesseits und Jenseits. Zum magischen Verstรคndnis der Welt gehรถrte auch, die Dinge immer รผbergreifend zu sehen. Das Oben schlieรŸt das Unten in sich, das Dunkle das Helle. Nachweisbar bis in die Wurzeln unserer Sprache. Im Ursprung war alles eins. Selbst das flackert noch in den ersten Bรผchern der Bibel. Die ein Schlรผsselwerk ist, wenn man verstehen will, was da vor รผber 2.500 Jahren in der Babylonischen Gefangenschaft passierte, wo die Wurzel gelegt wurde fรผr den jรผdischen Monotheismus, dessen Kinder ja Christentum und Islam sind.

Es steht so Manches gleich in der โ€œSchรถpfungโ€, was sogar noch in der Wortwahl erklรคrt, wie die abrahamitischen Schรถpfer dieser Religion das alte, ganzheitliche Weltbild aufbrachen. โ€œDa schied Gott das Licht von der Finsternis und nannte das Licht Tag und und die Finsternis Nacht.โ€ Und so geht das munter fort. Bis hin zur Aufforderung: โ€œMacht euch die Erde untertan.โ€ Das ist der Austritt aus dem alten, magischen Verhรคltnis der Menschen zu ihrer Welt. Denn Kennzeichen aller heidnischen Religionen ist ihr Bemรผhen um die Herstellung eines Einklangs mit ihrer Welt. Der immer prekรคr war. Und fรผr โ€œaufgeklรคrteโ€ Missionare nicht mehr nachvollziehbar. Die vielen Baumkulte mit ihren heiligen Hainen genauso wenig wie die panische Angst der Kelten, dass ihnen der Himmel auf den Kopf fรคllt.

Die heidnischen Glaubenswelten kennen noch keinen Garanten, der dafรผr sorgt, dass der Himmel oben bleibt. Ihre Gรถtter sind keine Allvรคter, sondern Teil der Welt, in der sie leben โ€“ und deshalb immer auch beides: gut und bรถse. Unberechenbar auf jeden Fall.Es ist, als enthรผlle Streck durch diese gewaltige รœberschau eine Welt, die bisher nicht sichtbar war, weil auch die Vorgeschichte immer aus der Sicht der heutigen monotheistischen Religionen betrachtet wurde. Die natรผrlich auch beides sind โ€“ die Vernichter des ursprรผnglichen Einklangs der Menschen mit ihrer Welt, und die Schรถpfer dessen, was wir heute als Fortschritt begreifen. Die magische Welt der Heiden kennt kein Ende, auch kein Weltende, auch wenn das ein paar moderne Narren immer wieder in den Kalendern etwa der Maya suchen. Ihre Weltsicht ist zyklisch โ€“ alles kehrt wieder. Auch der Maya-Kalender ist zyklisch gedacht. Wenn ein Zyklus endet, beginnt der nรคchste โ€“ nach dem selben Grundmuster. Alles war schon einmal da, alles geschieht wieder. Das zyklische Muster findet man in praktisch allen Legenden der indigenen Vรถlker weltweit. Auch in dem, was von der germanischen Mythologie etwa in der Edda รผberdauert hat.

Symbol fรผr den immerwรคhrenden Kreis ist dort die Weltschlange Midgard. Und dafรผr, dass Himmel und Erde nicht zusammenstรผrzen, dass der Kreislauf zwischen Oben und Unten intakt bleibt, stehen die Heiligen Bรคume. Eichen waren es nicht nur bei den Germanen, sondern ursprรผnglich auch bei Griechen, Rรถmern, Kelten. Die Sachsen verehrten die Irminsul. Und die Irminsul war das, was die eifernden Missionare fรคllten, um den alten Glauben auszurotten โ€“ und auf dem uralten Kultplatz wurde dann die erste Kirche erbaut.

Die Geschichte erzรคhlt tausendfach von diesen zumeist blutigen Umbrรผchen. Die Heiden wurden aus ihrem Weltverstรคndnis mit Feuer und Schwert herausgeprรผgelt. Seitdem gibt es den Fortschritt. Denn mit der abrahamitischen Religion kam nicht nur ein Anfang in die Welt (verbunden mit einer lebenslรคnglich nicht abbezahlbaren Schuldquittung fรผr Adam und Eva), es kam auch ein Ende in die Welt: das Weltgericht, der Jรผngste Tag. Seitdem โ€“ so Streck โ€“ hat menschliche Geschichte einen Richtungsweiser. Sie ist nicht mehr zyklisch. Sie hat Anfang und Ende. Und weil das Paradies auf Erden verloren ist, bekommen es die eifrigen Glรคubigen am Ende wieder โ€“ als Heilsversprechen nach ihrem Tod.

Streck nennt sein Buch โ€“ in dem er am Ende auch recht klug auf die Folgen dieser Entwicklung eingeht und auch auf moderne heidnische Kulte โ€“ ganz zurรผckhaltend โ€œDie Rekonstruktion der ersten Weltreligionโ€. Obwohl das Faszinierende an dieser Ur-Religion eigentlich ist, dass sie keine weltumspannende oder gar beherrschende Religion war, so, wie es die vom Missionseifer getriebenen monotheistischen Religionen gern sein wollen.

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Sterbendes Heidentum
Bernhard Streck, Eudora-Verlag 2013, 19,90 Euro

Die Formen dieser Ur-Religion haben sich rund um den Erdball wohl alle eigenstรคndig entwickelt. Doch da sie alle dieselben Grundbeziehungen der Menschen zu ihrer Welt und ihrem Leben ritualisierten, sind รผberall die Themen und Manifestationen รคhnlich. Es ist ein erstaunlich emotionaler Blick in die Zeit vor unserer vom Monotheismus geprรคgten Zeit. Und man bekommt auch ein Gefรผhl dafรผr, was die Menschen verloren, als sie begannen, die Dinge zu scheiden und der Zeit eine Richtung zu geben. Eigentlich zwei: nach vorn und nach oben.

Und Streck fragt zu recht am Ende, ob das Heidentum tatsรคchlich stirbt, oder ob es uns noch Jahrtausende begleiten wird โ€“ in immer neuen Manifestationen. Was schon deshalb so sein wird, weil die Menschheit โ€“ wenn sie sich nicht in wildem Wahn selbst vernichtet โ€“ noch etliche Jahrtausende, Jahrzehntausende vor sich hat. Die kรถnnen natรผrlich verdammt hart werden, wenn wir jetzt sรคmtliche Ressourcen, die die Erde bietet, verpulvern. Gerade dann aber werden kรผnftige Generationen wieder darauf angewiesen sein, den Einklang mit ihrer Welt zu finden. Schon des รœberlebens wegen.

So gesehen, ein hรถchst aktuelles Buch รผber eine noch gar nicht so weit zurรผck liegende Welt.

www.eudora-verlag.de

www.uni-leipzig.de/~ethno/alt/Streck.htm

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