Anfang der 1980er Jahre, da traute sich der Aufbau Verlag etwas. Er veröffentlichte Gedichtbände von Kolbe, Mensching und Böhme. 1983 war das, als Thomas Böhmes "Sanduhr am Gürtel" erschien. Darüber wundert sich der Leipziger noch heute. Das Buch wurde zu einem Bestseller. Und zu einem Geheimtipp.

Denn auch in der DDR waren 5.000 verkaufte Bände eines Gedichttitels nicht selbstverständlich. Und dass sie schneller aus den Buchhandlungen verschwanden als selbst begehrte Belletristik-Titel, war auch im Leseland DDR eher ungewöhnlich. Aber die Zeit war danach. Auch wenn noch niemand absehen konnte, wie das Enden würde, was 1980 in Polen und 1983 in der Sowjetunion begann. Und schon gar niemand auf eine deutsche Einheit wettete mit einer Bundesrepublik, in der gerade eine konservative “Wende” eingeläutet worden war.

Böhme war 28, als sein Gedichtband erschien. 26 war er, als er die meisten Gedichte davon schrieb – Gedichte volle Musik, Fernweh, mal depressiv, mal schnodderig. Das, was man manchmal auch einfach Tagebuch-Lyrik nennt. Es gibt geniale Tagebücher in der Weltliteratur, die sind solche Lyrik. Es gibt auch geniale Prosa-Stücke, die sind ebenfalls solche Lyrik. Die so genannte Beat-Literatur ist voll davon. Auch wenn im Grunde nur ein Klassiker dieser Beat-Literatur die DDR-Grenze je offiziell überschritt: Kerouacs “On the road”. Erschienen unter dem Titel “Unterwegs” als Taschenbuch bei Reclam Leipzig 1978. Natürlich zitiert Böhme dieses Buch. Natürlich schleppt er es mit auf seinen Reisen.

Und natürlich empfindet man beim Lesen der nunmehr 30 Jahre alten Gedichte dieselbe Ziellosigkeit, die Sehnsucht nach mehr, nach irgendetwas Wesentlicherem da draußen wieder. Denn Böhme hat eben nicht nur Tagebuch geschrieben, schon gar keine Gedichte zum Tage. Er hat die Stimmung seiner Zeit eingefangen. Seine Tage, sein Leben in der Mockauer Straße in Leipzig. Hier schön festgehalten für all die Leute, die Böhme in Literaturführern zur Stadt Leipzig nach wie vor ignorieren.

Vielleicht liegt’s auch an der falschen Perspektive. Man nimmt die 40, 45 Jahre “dazwischen” nicht ernst, weil man diese ganz Geschichtsepoche einfach nur über Stasi, SED, Diktatur, Westfernsehen und Intershop definiert. Und damit immer weiter und weiter in einer schmalspurigen Interpretation West. Womit man das ganze Land auf ein simples Pro und Kontra reduziert. Auf Partei und Kirche.

Ausgeblendet werden dabei ganze Strömungen, die das Land bewegten und veränderten und ohne die der Herbst 1989 ebenfalls nicht denkbar ist. Und dazu gehört – gerade auch in Leipzig – die Nähe zum Beat. Bei Böhme allgegenwärtig. Sein Leben ist begleitet von der Musik seiner Zeit. Er zitiert seine Lieblings-Bands allenthalben. Und er kann sie zitieren, denn natürlich findet sich in ihren Texten dieser nie zu befriedigende Anspruch nach dem ganzen, dem unbeschnittenen, dem freien Leben. Der natürlich in der verschlossenen DDR einen ganz anderen Widerhall fand. Was nicht einmal Bob Dylan bei seinem legendär verkorksten Berlin-Konzert begriff.

Es war selbst im Straßenbild der DDR zu sehen. Man trug Jesuslatschen, Stirnband und bestickte Weste. Man besorgte sich diese unsäglichen Sonnenbrillen, ließ die Haare wachsen. Und man trampte selbst in die mecklenburgische Provinz mit Gitarre und dem Gefühl, sich wegzubewegen. Auch wenn man nie rauskam. Die Sehnsucht nach Weite mussten Länder wie Ungarn oder Bulgarien erfüllen. Mazedonien vielleicht. Oder eben der völlig zerkratzte Pasolini-Film im Casino-Kino.

Und kein Dichter gab diesem Gefühl treffender Ausdruck als Böhme. Selbst Leute, die sonst keinen Gedichtband in die Hand nahmen, fanden sich wieder in diesen rockigen, rhytmisch eingängigen Texten, in dieser Atmosphäre und Ungeduld, diesem Suchen und Treiben. Selbst die Erotik hat das Raue, Abgenutzte der Zeit, das Traurige und Schwermütige, das über dem ganzen Land zu liegen schien.

Auch das hat hat Böhme genau eingefangen: Den Farbton einer ganz bestimmten Zeitspanne, in der alle Gründe schon rumorten, die dem Land und seinen Mächtigen wenige Jahre später die Legitimation nahmen.

Und das liest sich noch heute lebendig, plastisch, eingängig. Eigentlich kann man so einen Band mit “Gedichten & Gebilden” sogar in einen wasserfesten Umschlag packen und wieder mitnehmen auf die Reise fortwohin. Nach Mazedonien, Schweden oder in die Toskana. Oder an den Kulkwitzer See. Dieser Anspruch an Leben und Weite ist so aktuell wie bei Kerouac. Nur das Treppenhaus muss man nicht mehr wischen wie einst. Hat man mehr Zeit, die Sanduhr an den Gürtel zu hängen, den Gedichtband einzustecken und einfach mal wieder um die Häuser zu ziehen. Irgendwohin, wo man Leute trifft, die noch Träume haben.

 

Thomas Böhme “Mit der Sanduhr am Gürtel”, Connewitzer Verlagsbuchhandlung, Leipzig 2011, 15 Euro

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